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Robinson Crusoe durch die VR-Brille betrachtet

 GRAZ / KRASNOJARSK

16/02/21 Der Fahrradbote klingelt – und er bringt ein ganzes Theater nach Hause, sprich: die deutschsprachige Erstaufführung von Krasnojarsk von dem norwegischen Autor Johan Harstad. Theater, das eigentlich ein Film ist, gebannt auf VR-Brille: So etwas hat, wie man im Grazer Schauspielhaus hervorhebt, zumindest für Österreich Newswert.

Von Reinhard Kriechbaum

Man bekommt, wohl verpackt in einer stoßsicheren Box, eine VR-Brille, einen Controller (eine Kreuzung aus Maus und Lichtzeiger zum Ans-Handgelenk-Hängen), und ein USB-Kabel zum Nachladen. Es könnte ja der Strom ausgehen, noch bevor man die Weltuntergangsgeschichte hinter sich oder, schlimmer noch, bevor man die Virtual-Reality überhaupt ins Laufen gebracht hat.

Die Sache hat nämlich einen Haken: Der Beipackzettel mit technischer Anleitung hat schlappe dreizehn Punkte. Sehr genau beschrieben – aber das dicht abschließende Brillenungetüm muss ja gleich auf die Nase. Und dann geht nichts mehr mit Lesen, sonst bringt man die virtuelle Perspektive und den Lichtzeiger-Cursor durcheinander. Also die technische Anleitung auswendig lernen? Der Schreiber dieser Zeilen hatte das Prozedere nach zwei Warmstarts, beim dritten Anlauf also, auch schon gecheckt.

Theater, das eigentlich ein Film ist, gebannt auf VR-Brille: So etwas hat, wie man im Grazer Schauspielhaus hervorhebt, zumindest für Österreich Newswert. Man hat in Graz schon im ersten Lockdown, im Frühjahr 2020, mit dieser Technik experimentiert. Für "Krasnojarsk" (die Bühnenpremiere wäre für Dezember vorgesehen gewesen) ist man mit der 360-Grad-Kamera in die Pampa ausgerückt. In eine Industrieruine in der steirischen Weizklamm, in ein Bauernhaus eines Freilichtmuseums, und ins Burgenland, ans Ufer des Neusiedlersees. Österreich schaut mancherorts ziemlich endzeitlich aus.

Endzeit ist auch gefragt für Krasnojarsk. Kontinentalplatten sind aufeinandergekracht, so gut wie die ganze Welt und die Menschheit ist im Meer versunken. Nur ein Stück Eurasien ist übrig geblieben, ungefähr von Moskau ostwärts bis übers sibirische Krasnojarsk hinaus. Einige Menschen haben überlebt. Wir lernen einen Anthropologen näher kennen, der ausgeschickt wurde, nach Spuren der alten Zivilisation zu suchen. Mit einem Metalldetektor durchstreift er eine kahle Graslandschaft. Angeblich vier Jahre, erfahren wir en passant. Das Reisegepäck hat, inklusive Wasserkanister, auf einem Leiterwagerl Platz. Er stößt auf eine junge Frau, die einen Rucksack und einem Goldfischglas mit sich trägt und außerdem einen kleinen Schatz verwahrt: zwei Koffer voller handschriftlicher Briefe und Tagebuchnotizen, Schriftzeugnisse der untergegangenen Welt. Der Anthropologe pfeift drauf, Frau- und Schrift-Fund an die Zentrale in Krasnojarsk zu funken. Es bahnt sich ein recht zufriedenstellendes Leben zu zweit an, zumal sich in einer Haus-Ruine auch noch eine Vinyl-Schallplatte und sogar ein passendes Abspielgerät finden. Musik und Geschichten – da sind also schon mal zwei wesentliche Kulturdinge hinübergerettet in eine neue Welt.

Leider bleibt die Idylle nicht ungestört. Den in Krasnojarsk auf Nachricht Wartenden kommt die Sache verdächtig vor und man nimmt die Verfolgung auf. So kommt ein wenig Thrill in die Geschichte, der aber schnell wieder von viel Poesie weggefegt wird. Einige Zeit-Verschnitte – so etwas wie Gedankensprünge der Handelnden – haben Charme. Sein früheres Leben hat der Anthropologe wohl an der Seite einer sagenhaft langweiligen Frau in einer Design-Wohnung verbracht. Damals hat er sich hinein spintisiert ins tiefe Mittelalter, wo's herz- und nahrhafter zuging. Nach der Katastrophe ist er nun näher an einem Leben, das man fühlen und auskosten kann. Viele Ausstattungsdetails sind liebenswürdig erdacht, und mit ein bisserl gutem Willen kann man sogar Ironie herauslesen. Ein schöner Gedanke der Frau: Jede Geschichte sei wertlos, wenn man sie jemandem anderen erzählt. „Keine Geschichte überlebt zwei Erzähler, denn sie wird dann durch Diskussionen über sie ersetzt.“ Das treibe schließlich die Menschen auseinander.

Eigentlich hat Daniel Defoe schon vor dreihundert Jahren Krasnojarsk vorgedichtet: Der Anthropologe und die Frau, das sind Paraphrasen auf Robinson Crusoe und Freitag. Wie Defoe in der frühen Aufklärung fragt also der 1979 in Stavanger geborene Johan Harstad, was unsere Zivilisation ausmacht und was in eine ungewisse Zukunft hinüber zu retten sich lohnte. 1719 hatte man freilich einen überschaubereren Wertekanon als heutzutage, und so stehlen sich beide um Antworten herum, der norwegische Autor ebenso wie der Wiener Tom Feichtinger, der Regisseur der Filmversion.

Soll gut sein, denken wir uns also selbst unseren Teil zum Uneingelösten, während wir die VR-Brille zusammenpacken und den Fahrradbotendienst anrufen, auf dass das High-tech-Ding spätestens am dritten Tag zurück komme ins Schauspielhaus und dort desinfiziert werde. Pro Tag stehen drei Brillen zur Verfügung, neun insgesamt. Das rare Angebot (19 Euro) scheint viel Neugier geweckt zu haben, erst am 8. März gibt es freie Brillen, davor ist schon alles ausgebucht. Ach ja, den Ratschlag, sich auf einen Drehstuhl zu setzen, sollte man unbedingt ernst nehmen. Der Fauteuil im Wohnzimmer ist nur scheinbar gemütlicher. Die Handlung spielt sich tatsächlich rundum ab, Hals-Verrenkungen wären unausbleiblich.

www.schauspielhaus-graz.at
Bilder: Schauspielhaus Graz / Johanna Lamprecht (3); Lex Karelly (1)

 

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