asdf
 

Sturmgeboren, sturmverloren

LESEPROBE / LAFCADIO HEARN / CHITA

05/06/15 Lafcadio Hearn 1850 bis 1904: als Sohn eines irischen Regimentsarztes geboren in Griechenland, aufgewachsen Frankreich und England, ausgewandert in die USA, als Zeitungskorrespondent in Japan tätig, wird Japanischer Staatsbürger und schließlich Professor für englische Literatur in Tokio. Sein Roman „Chita“ über ein Mädchen, das eine Sturmflut überlebt, ist bei Jung und Jung in der Übersetzung von Alexander Pechmann erstmals auf Deutsch erschienen. – Hier eine Leseprobe.

Von Lafcadio Hearn

Jenseits der Salzwassersümpfe liegt ein merkwürdiges Archipel. Reist man heute mit dem Dampfer zu den Meeresinseln, erreicht man den Golf höchstwahrscheinlich über Grande Pass – man streift Grande Terre, die bekannteste Insel von allen, bekannt weniger wegen ihrer Nähe zum Festland als aufgrund ihrer großen verfallenden Festung und ihres anmutigen Pharos8: dem unveränderlichen Leuchtfeuer von Barataria9. Ansonsten ist der Ort trostlos und uninteressant: eine Wildnis aus windgebeugten Gräsern und zähem Unkraut, das unablässig von einem schmalen Strand winkt, der stets von angeschwemmten und verfaulenden Dingen gesprenkelt ist – wurmstichiges Holz, tote Delphine. Im Osten wird die rostbraune Ebene vom säulenartigen Umriss des Leuchtturms unterbrochen und noch weiter dahinter von kümmerlichem Gestrüpp, über dem die eckige rötliche Masse der alten Backsteinfestung emporragt, deren Wassergräben von Krabben wimmeln und deren Schleusen von übriggebliebenen, inzwischen von einer dicken Schicht Austern überwucherten Kanonenkugeln halb verstopft sind … Rundherum der graue Kreis eines Meeres voller Haie …

An manchen Herbstabenden, wenn die Himmelssphäre wie das Innere eines Kelchs erglüht und Wellen und Wolken in wilden Herden aus gebrochenem Gold dahineilen, sieht man dort die gelbbraunen Gräser bedeckt mit etwas wie Hülsen – weizenfarbene Hülsen –, groß, flach und gleichmäßig über die Leeseite eines jeden schwankenden Halms verteilt, so dass nur ihre Ränder dem Wind ausgesetzt sind. Doch wenn man näherkommt, brechen all diese blassen Hülsen auf, um eine seltsame scharlachrote und robbenbraune Pracht zu zeigen, mit arabesken Einsprengseln von Weiß und Schwarz: Sie verwandeln sich in wundersame lebende Blüten, die sich vor unseren Augen lösen und in die Luft erheben und zu Tausenden davonflattern, um sich weiter weg niederzulassen und wieder zu weizenfarbenen Hülsen zu werden … eine wirbelnde Blumenwehe aus schläfrigen Schmetterlingen!

*

Südwestlich, auf der anderen Seite der Passage, schimmert die schöne Grande Isle: ursprünglich eine Palmenwildnis (latanier), dann trockengelegt, eingedämmt und von spanischen Zuckerrohrbauern bepflanzt und nunmehr vor allem als Badeort bekannt. Seit dem Krieg hat der Ozean seinen Anteil zurückgefordert – die Zuckerrohrfelder sind zu sandigen Ebenen verkommen, über die sich Straßenbahnen zu den glatten Stränden schlängeln, die Plantagenwohnhäuser wurden in rustikale Hotels umgebaut und die Sklavenquartiere zu Dörfchen aus gemütlichen Cottages für Feriengäste umgestaltet. Doch mit ihren eindrucksvollen Eichenhainen, ihrer goldenen Pracht aus Orangenbäumen, ihren duftenden Oleanderwegen, ihren großen, mit wilder Kamille gelb besternten Viehweiden bleibt Grande Isle die schönste Insel des Golfs, und ihre Schönheit ist außergewöhnlich. Denn die Trostlosigkeit von Grand Terre zeigt sich auch auf den meisten anderen Inseln – Caillou, Cassetete, Calumet, Wine Island, die beiden Timbaliers, Gull Island und die vielen Inselchen, auf denen der graue Pelikan heimisch ist –, sie alle sind kaum mehr als Sandbänke, bedeckt mit drahtigen Gräsern, Prärieschilf und Gestrüpp. Last Island (L’Île Dernière), einstmals trotz ihrer Abgelegenheit einen ausgedehnten Besuch wert, ist heute eine gespenstische, fünfundzwanzig Meilen große Einöde. Obwohl sie fast vierzig Meilen westlich von Grande Isle liegt, hatte sie noch vor einer Generation viel mehr Bewohner: Sie war nicht nur die berühmteste Insel der Gruppe, sondern auch der angesagteste Badeort des aristokratischen Südens. Heute wird sie nur noch von Fischern besucht, und dies recht selten. Ihr wunderbarer Strand glich in vielem dem von Grande Isle unserer Tage. Auch die Unterkünfte waren sehr ähnlich, allerdings vornehmer: ein charmantes Dorf aus Cottages mit Blick auf den Golf nahe an der westlichen Küste. Das Hotel war ein massiver zweistöckiger Holzbau mit zahlreichen Zimmern, einem großen Speiseraum und einem Tanzsaal. Hinter dem Hotel lag ein Bayou, wo Passagiere an Land gingen – es wird heute noch von den Seeleuten »Village Bayou« genannt –, doch der tiefe Kanal, der etwas weiter östlich die Insel teilt, existierte nicht, als das Dorf noch stand. Das Meer hat ihn eines Nachts gewaltsam ausgehoben – in derselben Nacht, als Bäume, Felder, Häuser allesamt im Golf verschwanden und keine Spur von den dort ansässigen Menschen zurückblieb, außer einigen jener festen Backsteinstützen und -fundamente, auf denen die Holzhäuser und Zisternen errichtet worden waren. Ein einziges lebendes Wesen wurde dort nach der Katastrophe gefunden – eine Kuh! Doch wie jene einsame Kuh den Zorn einer Sturmflut überleben konnte, die tatsächlich die ganze Insel entzweiriss, blieb für immer ein Geheimnis …

Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlages

Lafcadio Hearn: Chita. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Jung und Jung Verlag Salzburg 2015. 136 Seiten. 17,90 Euro. Auch als E-book erhältlich - jungundjung.at
Bild: Jung und Jung

 

DrehPunktKultur - Die Salzburger Kulturzeitung im Internet ©2014