Der Mund voller Scheußlichkeiten
DIAGONALE / SIEGERFILME
22/03/15 „Ich seh Ich seh“ von Veronika Franz und Severin Fiala hat beim Filmfestival „Diagonale“, die heute Sonntag (22.3.) in Graz zu Ende geht, den mit 21.000 dotierten Großen Preis als bester Spielfilm bekommen. Gleich hoch dotiert ist der Preis im Bereich Dokumentarfilm. Er geht an Nikolaus Geyrhalter für den Drei-Stunden-Film „Über die Jahre“.
Ein Film, „der alles hat, Klarheit und Mysterium, psychologisches Drama und Horrorgenre“: So die Jury über „Ich seh Ich seh“. Zehnjährige Zwillingsbuben warten auf ihre Mutter. Als diese nach einer Schönheitsoperation einbandagiert nach Hause kommt, ist nichts mehr wie vorher. Die Kinder beginnen zu bezweifeln, dass diese Frau tatsächlich ihre Mutter ist. Sie versuchen die Wahrheit herauszufinden. Ein existentieller Kampf um Identität und Urvertrauen entspinnt sich. „Dieser fiese kleine Film nimmt den Mund voller Scheußlichkeiten, kaut provozierend langsam drauf herum und spuckt sie mir schließlich vor die Füße, weil ich nicht rausgegangen bin, als noch Zeit dazu war“; So schrieb die FAZ über diesen Streifen. Die beiden Filmemacher drehten „mit dieser garstigen Kollaboration Mutterliebe, kindliches Urvertrauen und die menschliche Sehnsucht nach Geborgenheit durch den Fleischwolf, dass die Knochen splittern“.
Wenn es um Thrill geht, dann hätte man sich auf dieser „Diagonale“ auch andere Filme recht gut als Sieger vorstellen können. Da wäre zum Beispiel „Risse im Beton“ von Umut Dağ. Der kurdischstämmige, in Wien lebende Regisseur verpackt in diesen Kriminalfilm eine Zustandsbeschreibung jener Migranten-Generation, für die (mangelhaftes) Deutsch zwar nicht Mutter-, aber Alltagssprache ist, auch untereinander, und für die das Ausgegrenzt-Sein der Normalfall ist. „Du bist und bleibst Kanake“, hört Ertan von einem, der als Geldverleiher und Job-Vermittler für krumme Dinge einen Namen hat in der Szene. Murathan Muslu spielt die Hauptrolle in diesem Film, der einen nicht kalt lassen kann: Nach zehn Jahren Haft (wegen Totschlags) ist Ertan tatsächlich geläutert und um Redlichkeit bemüht. Zu einem jungen Mann, eine Generation jünger als er, entwickelt er eine besondere Beziehung. Warum will er gerade diesen Jungen, der schon so gut wie mit beiden Beinen im Kriminal steht, vor dieser „Karriere“ bewahren? Ungefähr ab Filmmitte wird das klar – und die Handlung von geradezu griechischer Tragödien-Heftigkeit erst so recht spannend. Murathan Muslu hat für seine Rolle einen der beiden „Diagonale“-Schauspielpreise zugesprochen bekommen. Der zweite ging an Ulrike Beimpold für „Superwelt“ (Regie: Karl Markovics).
Spannung anderer Art in „Ma Folie“, dem ersten abendfüllenden Spielfilm von Andrina Mračnikar. „Ma Folie“ ist eine Liebe im Zeitalter geographischer Beweglichkeit und neuer Kommunikationsmittel. Hannas Pariser Kurzzeit-Lover steht vor der Tür. Das Glück währt kurz, die Romanze schlägt jäh um, als Yann sich als krankhaft eifersüchtiger Tyrann herausstellt. Zuerst waren es poetische Videos, die auf Hannas iPhone landeten. Jetzt ist Yann ein Stalker. Der Reiz der Geschichte ist, dass aus ganz plausiblen Handlungselementen eine Story entwickelt wird, die schließlich in den Köpfen beider – wohlgemerkt: beider – Protagonisten die Dimension eines Thrillers erreicht.
Andrina Mračnikar ist übrigens gebürtige Halleinerin. Sie hat ihre Film-Bestimmung aber in Wien gefunden. Sucht man im Diagonale-Programm nach dem gerade in Salzburg angeblich so boomenden Filmschaffen, muss man ernüchtert konstatieren: Seit einigen Jahren schon bleibt das Bundesland auf dem Grazer Festival des österreichischen Films weitgehend abgemeldet. Auch Virgil Widrich, der es mit einem Motiv aus seinem neuen Experimental-Kurzfilm „back track“ sogar aufs Diagonale-Plakat gebracht hat, hat zwar familiäre, aber keine filmischen Wurzeln hier. Er arbeitet längst in Wien. „back track“ ist ein eigenwillig poetisches Ding, eine aus historischen Filmversatzstücken gebaute Collage, der Widrich quasi die Mode des 3D-Kinos überstülpt. In all den netten Oldie-Szenen gewinnen Ausstattungsstücke oder auch Figuren Leben im Raum. Virgil Widrich hat das mit durchaus konventioneller Technik, mit einem Dreh zwischen Spiegelelementen im Bastel-Studio, mit handwerklicher Eigenwilligkeit und mit einem gerüttelt Maß an leiser Ironie umgesetzt.
Der Preis für Innovatives Kino ging schließlich an „Exhibition Talks“ von Sasha Pirker und Lotte Schreiber, ein laut Jury „taktiles Zusammenführen von umbautem Raum und der Idee von Kino“. Insgesamt wurden im Rahmen der Diagonale Preise im Wert von rund 165.000 Euro vergeben.