Fuge und Traum und Wirklichkeit
FESTSPIELE / PIERRE-LAURENT AIMARD
22/07/14 Die Stunden verwandelten sich in Minuten, so erzählt ein Schüler Bachs, als der Meister sich „an eines seiner vortrefflichen Instrumente setzte“, und ihm das „Wohltemperierte Klavier“ gleich dreimal hintereinander vorspielte. Pierre-Laurent Aimard spielte den Zyklus – leider – nur einmal und ließ kostbarste Augenblicke wie in Flug und Traum vergehen.
Von Heidemarie Klabacher
Das Staunen beginnt mit dem berühmten Präludium C-Dur KV 846, an dem sich wohl jeder einmal versucht hat, der auch nur ein paar Jahre lang Klavier gelernt hat: Schon nach den ersten zerlegten Akkorden in „reinem“ C-Dur tut sich bereits hier der gesamte Kosmos chromatischer Farbigkeit und harmonischer Vielschichtigkeit auf. Dem scheinbar so schlichten Präludium folgt die ebenso klare wie hochkomplexe Fuge in derselben Tonart. Das c-Moll Präludium lässt Pierre-Laurend Aimard vorüberrauschen wie einen vor-romantischen Sturzbach, gefolgt vom heiter von Stein zu Stein springenden Fluss der c-Moll Fuge. Mit dem schwebend singenden cis-Moll Präludium und seiner ebenso traumverhaltenen Fuge gewinnen die Stücke Raum, Breite und Tiefe. Und von einer Bodenhaftung des Zuhörers kann schon zu diesem noch frühen Zeitpunkt nicht mehr die Rede sein.
Heiter fließende, melancholisch überschattete, rezitativisch erzählende und sanft schwebende Präludien, dazu die grandiosen Fugen, die manchmal anfangen, wie aus dem Tonsatz-Lehrbuch um innerhalb weniger Takte abzuheben in kompositorisch komplexeste und technisch virtuoseste Gefilde: Das „Wohltemperierte Klavier“ ist eines jener „Inselwerke“, die man nie fertig gehört hat, weil sie immer wieder neue Facetten sehen lassen. Pierre-Laurent Aimard ist in unseren Tagen wohl der Pianist, der diese Pretiosen in all ihrer farbigen Tiefe am erhellendsten zu erschließen weiß.
Erstaunlich die Gefängnis-Story zur Entstehungsgeschichte des legendären Zyklus. Bach und Gefängnis? Passt das nicht eher in die Biographie des notorisch schlagfertigen Mozart? Von 6. November bis 2. Dezember 1717 war Johann Sebastian Bach jedenfalls in der Weimarer Landrichter-Stube „arretiert“. Der Komponist und Hoforganist hatte seinen Dienstgeber vergrätzt, weil er sich ungefragt einem neuen Herrn verpflichtet hatte. Das ist historische Tatsache.
Dass er diesen Wochen das „Wohltemperierte Klavier“ geschrieben hat, ist Legende. Aber nicht ganz. Bach hat unter „unmuth, langer Weile und Mangel jeder Art von musikalischen Instrumenten“ gelitten und zum „Zeitvertreib“, unter Rückgriff auf älteres Material, die 24 Präludien und Fugen im Kotter konzipiert: „Das wohltemperierte Klavier“ ist das erste Werk der Musikgeschichte, in dem alle 24 Tonarten in anspruchsvollsten Kompositionen zu Wort und Klang kommen.
Der Pianist Pierre-Laurent Aimard offenbarte im Großen Saal des Mozarteums in Salzburg geradezu atemberaubende Einblicke in die Tiefenschichten des Schlüsselwerks.
Die in Ausdruck und Charakter so vielfältigen Präludien – revolutionär in ihrer Freiheit im Umgang mit tradierten Formen – lässt Aimard in einem einzigen Guss kostbarsten Klangmaterials ausströmen. Bis in die feinsten Verästelungen hinein nachhörbar gestaltet er die Expositionen der Fugen. Die Themen kommen ernst schreitend, verspielt tänzelnd oder beängstigend dramatisch, aber nie „akademisch“ daher. In den Durchführungen weiß Aimard die Welt den Atem anhalten zu lassen. Raum und Zeit verschmolzen zu Augenblicken reinen Glücks, nicht nur - aber exemplarisch - in der legendären vierstimmigen Schluss-Fuge h-Moll BWV 869. Tatsächlich gönnte das Publikum sich und dem Künstler danach mehrere kostbare Sekunden stillen Nachklingenlassens bevor es in Jubel ausbrach.
„Das Alte Testament der Musik“ nannte Hans von Bülow den Zyklus. Ein zweischneidiges Kompliment. Musste sich das Alte Testament der Bibel nicht erst im Neuen Testament erfüllen? Im „Wohltemperierten“ gibt es nichts Unerfülltes. Es nimmt romantisch springende Bächlein ebenso vorweg, wie vibrierende Klangflächen oder die Brüche zeitgenössischer Expressivität. Johann Sebastian Bach hat BWV 846 bis 869 vielleicht im Gefängnis - sicher aber im Hinblick auf die Interpretation von Pierre-Laurent Aimard geschrieben.