KI macht eine Untote
SCHAUSPIELHAUS SALZBURG / BLEIB
24/01/25 „Ich bin mit meiner Tochter verabredet, und ich möchte pünktlich sein“, sagt die Mutter. Diese Tochter ist freilich seit zwei Jahren tot. – Bleib, ein Stück über Trauerverarbeitung und die trügerischen Lockungen von KI von der französischen Autorin Azilys Tanneau, als deutschsprachige Erstaufführung im Schauspielhaus Salzburg.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein „Date“ mit der Tochter, die sich als Sechzehnjährige das Leben genommen hat? Künstliche Intelligenz scheint's möglich zu machen. OSIRIS heißt das scheinbare Wunderprogramm, das einen virtuellen Menschen wie echt wieder herbei zaubert. Die Idee ist so abwegig nicht. Schließlich hinterlassen gerade junge Leute nicht wenig Spuren im Internet. Und wenn man diese Daten verknüpft beispielsweise mit intimsten Notizen wie Tagebucheinträgen könnte tatsächlich ein Avatar mit wirklichkeitsnahen Reaktionen destilliert werden. Das ist alles andere als Zukunftsmusik.
Der „Projektberater“ von Osiris (Enrico Riethmüller), ein schleimiger Seelenfänger, glaubt in der verzweifelten Mutter (Daniela Meschtscherjakow) gerade das rechte Opfer gefunden zu haben. Ihr geht es darum, noch ein Mal mit der Tochter zu reden. Warum ist sie aus dem Leben geschieden? Wäre das ein mögliches Ende von Selbstvorwürfen, die das Ehepaar seither plagen? Mit der Aussicht auf die virtuelle Wiederauferweckung der Tochter gerät die Mutter freilich nicht nur in eine Psycho-Falle. Hinter OSIRIS, diesem Start-up, das vermeintlich Untote produziert, stehen handfeste finanzielle Absichten. Die Frau setzt nicht nur das Erbe der Großmutter ein, sondern bringt auch die Familienfinanzen in gewaltige Schieflage. „Es ist eine Fata Morgana, ein Videospiel“, warnt ihr Mann (Marvin Rehbock) vergeblich. Ginge es nicht um Trauerbewältigung, also um eine elementare (Über)Lebensfrage, könnte man salopp sagen: Die Mutter ist spielsüchtig und im Begriff, die Familie zu ruinieren.
Verena Holztrattner, Absolventin vom Thomas Bernhard Institut an der Universität Salzburg, ist die Regisseurin und setzt das Stück der jungen Französin Azilys Tanneau ganz unprätenziös mit einfachsten Mitteln in Szene. Vorbeiziehende Wolken und Meer als Hintergrundprojektion, wenn sich Mutter und „rekonstruierte“ Tochter (Leonie Berner) gegenüberstehen. Die ist zuerst ein ganz und gar puppenartiges Wesen, das artige Stehsätze und standardisierte Antworten von sich gibt. Erst als die Mutter dem schleimigen Seelen-Käufer die Tagebücher ausliefert, wird aus dem Avatar ein zwar immer noch deutlich maschinengesteuertes Wesen, aber immerhin ein aufsässiger, zorniger Teenager. Mit Dankbarkeit steigt die Mutter auf jede neue Entwicklung ein, bucht Sitzungen noch und noch. Worauf der OSIRIS-Betreiber abzielt, sind letztlich Datenklau und Geschäftemacherei.
Der Vater sucht auf seine Art Trauerbewältigung. Er richtet Voice-Botschaften ans immer noch aktive Handy der toten Tochter. Einzig deren Zwillingsbruder (Rene Eichinger) hat sich einen realistischen Blick bewahrt. Im doppelköpfigen Gott Janus findet er ein Sinnbild fürs nötige Vor- und Zurückschauen, wobei sich logischerweise er als jener erkennt, der in die Zukunft blicken muss. Auch in dieser Schlüsselszene taucht die Tochter auf – und da ist sie nicht aus künstlicher Intelligenz geschaffenes Trugbild, sondern ein lebendiges Wesen der Erinnerung, das sich an den Bruder anschmiegt. Das Bild ist unmissverständlich: Trauernde Imagination ist etwas, das man sich selbst schaffen muss und nicht an KI auslagern kann.
Azilys Tanneaus Theaterstück zeigt uns durchwegs klischeehaft erdachte Persönlichkeitsbilder und Szenerien. Manchmal schrammt es an Komik vorbei, aber das Lachen bleibt einem gewiss im Hals stecken. Vielleicht wäre „Salon-Tragödie“ eine passende Genrebezeichnung? Die Aufführung im Schauspielhaus Salzburg ist jedenfalls geprägt von formidablen schauspielerischen Leistungen, Daniela Meschtscherjakow lässt die zerrissenen Gefühle der Mutter unmittelbar mitfühlen: empathische Vorfreude auf jede der Sitzungen, deren jede zwangsläufig in Enttäuschung mündet.
Aufführungen bis 22. Februar im Studio – www.schauspielhaus-salzburg.at
Bilder: Schauspielhaus Salzburg / Jan Friese