Wie sich Nikodemus Jesu in der Hölle vorstellte
REST DER WELT / NATIONALBIBLIOTHEK / KINDER ABRAHAMS
11/06/14 Der vermeintliche Evangelist Nikodemus hat es ganz genau gewusst: Seine Schilderung ähnelt einem modernen Film-Prequel oder -Sequel, das erzählt, was vor, nach oder neben der Haupthandlung geschah. Da wird also berichtet, wie Jesus zwischen Kreuzigung und Auferstehung in die Hölle hinabsteigt, um den dort Gefangenen zu predigen und Adam in den Himmel zu führen.
Dieses „Nikodemus-Evangelium“ aus dem 5. Jahrhundert war eines der populärsten und einflussreichsten neutestamentlichen Apokryphen – also eine jener Schriften, die es nicht in die Bibel geschafft haben. Die Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek ist das wichtigste und älteste Fragment der lateinischen Übersetzung, die bald nach dem griechischen Original entstand und nur äußerst selten ausgestellt wird.
Nun ist sie eines der Schaustücke in der neuen Ausstellung im Papyrusmuseum der Nationalbibliothek, „Kinder Abrahams. Die Bibel in Judentum, Christentum und Islam“. Die drei monotheistischen Religionen verbindet ihr gemeinsamer Stammvater Abraham und eine jahrhundertelange Auseinandersetzung mit der Bibel: Mehr als 90 Exponate aus mehreren Jahrhunderten der Antike und des Mittelalters veranschaulichen die lange Zeit ihrer Textgestaltung, Überlieferung und vielfältigen Wirkungsgeschichte.
Wir dürfen uns die Bibel ja nicht als festgefügten Text, quasi eine antike „Urtext-Edition“ vorstellen. Was überliefert ist, sind eher Textschnipsel. Etwa jenes Fragment des so genannten „Chester Beatty Codex“, der den Beginn des Passionsberichtes nach Matthäus enthält. Auf einem koptischen Friedhof beim antiken Aphroditopolis in Mittelägypten wurden 1930 in Tonkrügen größere Teile eines Papyruscodex gefunden, von denen die meisten Blätter heute in der Chester Beatty Library in Dublin verwahrt werden. Die Schrift stammt aus dem 3. Jahrhundert, ein Fragment gelangte in die Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Es ist das äußere Drittel einer beidseitig beschriebenen Buchseite, die ursprünglich den vollständigen Text vom Beginn der Passionsgeschichte nach Mt 25,41–26,39 enthielt: Auf der Vorderseite steht der Abschluss des Gleichnisses vom Weltgericht, gefolgt vom Bericht über den Beschluss des Hohen Rates, die Salbung in Bethanien und den Verrat des Judas. Über das Abendmahl, den Gang zum Ölberg und das Gebet in Gethsemane kann man auf der Rückseite lesen.
Die Anfänge der Bibel liegen im ersten vorchristlichen Jahrtausend. Damals entstand im Judentum des Vorderen Orients die Idee einer abgeschlossenen Sammlung heiliger Schriften von höchster Autorität, die heute als Tanach bezeichnet wird. Diese Hebräische Bibel wurde mit Erweiterungen vom frühen Christentum als Altes Testament übernommen. Die Erzählungen, die darin überliefert sind, haben aber eine noch längere Tradition und lassen sich bis in die Zeit Mesopotamiens zurückverfolgen. So kann man über die Sintflut bereits um das 3. Jahrtausend v. Chr. im Gilgamesch-Epos lesen und Tontafeln berichten von einer Vertreibung aus dem Paradies.
Durch Abschreibefehler ebenso wie durch interpretierende Ergänzungen und Bearbeitungen kam es zu einer großen Vielfalt verschiedener Bibeltexte um die Zeitenwende. Erst am Ende des 1. Jahrhunderts entsteht mit der Bildung des Kanons der Hebräischen Bibel auch ein Standardtext, der von einer Gruppe jüdischer Schriftgelehrter, den Masoreten, festgelegt wurde, und noch heute in Judentum und Christentum verwendet wird.
Das, was wir Christen als Bibel verstehen, entstand ab dem 2. Jahrhundert. Damals traten zur Hebräischen Bibel die Evangelien, die Apostelgeschichte, die apostolischen Briefe und die Apokalypse – die Text-Kompilation eben des „Neues Testaments“. Da sich die neue Religion im Römischen Reich verbreitete, wurden die griechischen Übersetzungen der hebräischen Texte erneut übertragen, diesmal ins Lateinische. In der Ausstellung ist beispielsweise eine um 500 entstandene lateinische Fassung der Sprüche Salomons zu bewundern. Das Besondere: Sie ist als Palimpsest überliefert. Das wertvolle Pergament wurde dreihundert Jahre nach seiner ersten Beschriftung im Kloster Bobbio in Italien „recycled“. Die Mönche haben den ursprünglichen Text mit Briefen des Kirchenvaters Hieronymus überschrieben, doch die ursprüngliche Schrift ist auf dem ausgestellten Blatt noch immer erkennbar.
Während die Schriften der Bibel über Jahrhunderte zusammengetragen wurden, entstand der Koran in relativ kurzer Zeit: Muhammad empfing seine erste Offenbarung im Alter von vierzig Jahren, mit seinem Tod im Jahre 632 wurden die Inhalte des Korans als komplett angesehen. Die Ausstellung präsentiert einige sehr frühe Koranhandschriften, darunter ein Fragment aus dem 8. Jahrhundert, das auch die engen Beziehungen von jüdischen, christlichen und islamischen Texten illustriert: So heißt es dort in Sure 10, in Anspielung auf Jesus Christus, dass Gott sich keinen Sohn genommen habe.
Der Koran steht aber nicht im Gegensatz zu den Evangelien oder dem Tanach, er betrachtet sich vielmehr als Endpunkt einer Folge von Botschaften Gottes an Propheten, von denen Jesus einer, Muhammad ein anderer war. Wechselbeziehungen gibt es: So zeigt das Doppelblatt einer arabischen Handschrift aus dem 9./10. Jahrhundert eine kunstvolle, mehrfarbig illustrierte Darstellung des Paradieses als Garten – eine im gesamten Nahen Osten verbreitete und auch in der Bibel ausgedrückte Vorstellung.
Den Abschluss der Ausstellung bildet ein dreisprachiges Messbuch, das den griechischen Bibeltext neben der koptischen Übertragung und der arabischen Übersetzung wiedergibt. Während die griechische Schrift aus dem 10. Jh. stammt, wurde die arabische vermutlich erst im 13. Jh. hinzugefügt. Ein eindrucksvolles Zeugnis für die gemeinsamen kulturellen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam – bis heute. (ÖNB/dpk-krie)