Durch das Riesentor...
KLANGWOLKE / MATHILDE KRALIK
22/09/21 Wie schön, dass die diesjährige „Klassische Klangwolke“ beim Brucknerfest Linz in der Hauptsache einer Komponistin galt. Das Brucknerfest widmet sich heuer den Kompositionsschülern Anton Bruckners, zu denen als einzige Schülerin Mathilde Kralik von Meyrswalden zählt. Zwei ihrer Werke wurden nun in Linz uraufgeführt!
Von Gottfried Franz Kasparek
Die gebürtige Linzerin Mathilde Kralik von Meyrswalden (857 bis 1944) entstammte einer geadelten Fabrikantenfamilie. Sie war die Schwester des Dichters und Philosophen Richard Kralik und die Tante des legendären Musikschriftstellers Heinrich Kralik. Als Kind aus reichem und kunstverständigem Haus genoss Mathilde das Privileg, sich ganz ihrer künstlerischen Berufung hingeben zu können. Ihre Kammermusik fand sogar Anklang beim gestrengen Eduard Hanslick, ihre Lieder, die den Hauptteil ihres Schaffens bilden, wurden gerne gesungen. Mit ihren drei Opern (darunter Blume und Weißblume auf einen Text des Bruders, immerhin 1910 in Hagen uraufgeführt) und ihren Oratorien (darunter Die Taufe Christi auf einen Text von Papst Leo XIII., 1900 im Wiener Musikverein zu hören) hatte sie nur begrenzten Erfolg.
Ihre wenigen symphonischen Werke blieben fast nur in der Schublade. Mathilde Kralik, ab ihrer Studienzeit in Wien lebend, war dort eine beliebte Pianistin, Betreiberin eines Musiksalons und sehr engagiert im Musik-Vereinsleben. Sie war im Grunde konservativ eingestellt und tief gläubig, lebte aber sehr diskret und offenbar glücklich jahrzehntelang mit einer Frau, der rumänischen Universitäts-Professorin Alice Scarlates, zusammen.
Mathilde Kralik versuchte noch 1940, ihren um Walther von der Vogelweide kreisenden Opern-Einakter Unter den Linden bei der Nazi-Kulturverwaltung unterzubringen. Die sehr informative Ausstellung im Foyer des Brucknerhauses verschweigt einen bedenklichen Brief an Goebbels nicht. Man sollte der alten Dame dies nicht mehr ankreiden als den vielen berühmten Männern, die Ähnliches taten. Auch die Familie Kralik war zum Teil „jüdisch versippt“ und die Komponistin persönlich war wegen ihrer sexuellen Orientierung gefährdet. Die Anbiederung war übrigens völlig erfolglos. Mathilde Kralik blieb unbehelligt.
Nun hob die unermüdlich die Musik von Frauen propagierende Dirigentin Silvia Spinnato mit ihrem diesmal sechzigköpfigen Female Symphonic Orchestra Austria (FSOA) zwei Orchesterwerke der Mathilde Kralik aus der Taufe – ja, es handelte sich tatsächlich um Uraufführungen! Das Konzert für Violine und Streichorchester (mit Pauke) d-Moll stammt aus dem Jahr 1937 und ist ein schönes, melodisch einprägsames Stück voll inniger Spätromantik. Die Solistin Francesca Dego spielte mit Verve, technischer Souveränität und spürbarer Begeisterung, die sie mit dem sorgsam begleitenden Orchester und der mitatmenden Leiterin teilte. Als Zugabe war die Rhapsody Nr. 2 for violin solo der 1981 geborenen Afroamerikanerin Jessie Montgomery zu hören, ein zündendes Werk ganz in brillanter Virtuosentradition.
Zuvor hatte das Orchester die dreisätzige, unvollendete Sinfonie für Streichorchester eines Kommilitonen der Kralik, des erst 16jährigen Bruckner-Schülers Hans Rott (1858-1884), interpretiert. Fein gezeichnet wie ein Aquarell hätte das sehr nach Mendelssohn klingende Gesellenstück eines Hochbegabten mehr Dynamik benötigt. Der Mahler-Freund Rott scheiterte bekanntlich wenig später mit seiner großen Symphonie an einer Jury mit den Herren Brahms, Goldmark und Hanslick, deren gehässig vorgetragenes Fehlurteil er nicht verkraften konnte. Die Symphonie wurde nach seinem frühen Tod zu einer Ideenquelle Mahlers.
Auch Mathilde Kraliks Symphonie f-Moll ist ein Solitär. Das anspruchsvolle Werk wurde um die Jahreswende 1903/04 Zeitungsberichten zufolge in Prag uraufgeführt, doch nie nachgespielt. 1942 überarbeitete die Komponisten das Stück. Diese Fassung gelangte nun in Linz zur ersten Aufführung. Bewundernswert ist, wie Silvia Spinnato und ihr rein weibliches Kollektiv das schwierige Stück nicht nur ohne Fehl und Tadel, sondern auch mit gebührender Leidenschaft und großem Können musiziert haben. Man ertappte sich bei dem Gedanken, einmal eine Bruckner- oder Mahler-Symphonie in dieser Konstellation erleben zu können. Die Streichergruppe entwickelte einen betörend sonoren Klang und die Bläserinnen gaben ihr Bestes, hervorragend sekundiert vom patenten Schlagzeug und der Organistin Magdalena Hasibeder.
Das komplexe Werk verblüffte mit seiner Energie und melodischen Kraft. Natürlich war Bruckner das Vorbild, neben Bach'scher Kontrapunktik, aber Mathilde Kralik hat diese Anregungen mit eigenen Ideen in eine sehr kompakte, ein wenig zu dick instrumentierte, aber effektvolle Klanglandschaft verwandelt, ganz besonders im vielgestaltigen Scherzo, das die Dirigentin sensibel modellierte. Der Molltonart zum Trotz drückt die Musik ernste, doch vitale Lebensfreude aus.
Den Schlusshymnus schrieb die Komponistin auf einen eigenen Text erst 1942 dazu. Zu einem dicht gewebten, massiven Orchestersatz mit Pauken und Trompeten muss da eine Sopranistin eine geradezu brünstige, sehr katholische Hymne an die „gotterfüllte Unendlichkeit“ und das wohl vom Wiener Stephansdom inspirierte „Riesentor der Ewigkeit“ intonieren. Die Urheberin konnte diese eigentlich unsingbare Exhibition leider nicht mehr ausprobieren, hören und ändern. Denn gegen diese kaum zu dämmenden Orchesterfluten käme nicht einmal eine Nilsson oder Varnay an. Jacquelyn Wagner schaffte es mit beherztem Volleinsatz und dank einer in diesem Fall unbedingt notwendigen Verstärkung, die ihren lyrisch-dramatischen Edelsopran freilich sehr metallisch auflud. Da musste ja das Riesentor sich öffnen! - Das reichlich erschienene Publikum spendende viel Applaus und Bravorufe.