Es ist aus für solche wie uns
BURGTHEATER / KOMPLIZEN
27/09/21 Er kriegt einiges zu hören von der ungarischen Haushälterin, der verkaterte Typ. Bei Maxim Gorki heißt er Protassow, jetzt im Burgtheater, in der Stücküberschreibung von Simon Stone, ist aus ihm Paul geworden. Es muss recht wüst zugegangen sein am Vorabend, aber – in den kommenden vier Stunden bekommen wir es haarklein vorgeführt – es geht generell wüst zu bei den Wiener „Kindern der Sonne“.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein Zirkel verfeindeter Freunde oder verfreundeter Feinde, die das stylische Leben gepachtet, die Selbstgewissheit gekauft, ihr Abgehoben-Sein verinnerlicht haben. Wir sind im Hier und Jetzt. In Wien, wie sich aus dem einen oder anderen Nebensatz erschließt. Aber es könnte überall sonst sein in unserer schönen Welt, in der man freilich auf der Hut sein muss, weil draußen Infektionsgefahr herrscht. Corona muss man nicht (oder nur beiläufig) beim Namen nennen. Die Seuche – bei Gorki ist es die Cholera im russischen Smolensk – zieht noch einmal eine Glaswand um diese Leute, die sowieso schon im tollen Design gläserner Villen leben.
Simon Stone schlüpft am Burgtheater in die Rolle des Maxim Gorki anno 1905. Er stülpt eigene Texte über zwei Theaterstücke, denen auf den Bühnen, von ganz spärlichen, punktuellen Gelegenheiten abgesehen, so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt wird: „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ sind einst von der zaristischen Zensur augenblicklich versenkt worden. Als zu gegenwärtig waren die tektonischen Verwerfungen empfunden worden. Als zu irritierend die Hinweise auf damals noch regional gemessene Erdbeben, die ein gutes Jahrzehnt später als Flächenbrand in die Russische Revolution führen sollten.
Eine ganz ähnliche Situation – und das sollte uns gehörig Gänsehaut machen an diesem fordernden Theaterabend – ortet Simon Stone in der Gegenwart. Er holt die Causa in die Mittelschicht (also nicht nur zeitlich, sondern auch im Milieu ganz nahe zu uns). Das dumpf-tumbe Gefühl vieler Menschen, abgehängt zu werden, auf wirtschaftliche Blindgeleise manövriert zu werden, eingefahrene gesellschaftliche Rituale nicht mehr halten zu können: Diese Ängste anerkennt der Theatermann so ernsthaft wie jene in der seinerzeit von Gorki beschriebenen Gesellschaft. Es rumort jedenfalls gewaltig im sozialen Souterrain. Was genau sich da zusammenbraut und wie es sich entladen könnte, wissen wir eben so wenig wie Gorki in der russisch-zaristischen Endzeit.
Auf der Drehbühne im Burgtheater hat Bob Cousins eine weitläufige Wohnlandschaft aus miteinander verbundenen Glaskobeln gebaut. Durchsichtig alles, einsichtig, durchschaubar. Meist ultra-langsam, aber beständig in Bewegung. Die Protagonisten hängen – gute russische Dramen-Konstellation seit Tschechow – aneinander wie die Kletten. Hinter dem Wissenschafter Paul (Michael Maertens) ist die reichlich exaltierte, psychisch angeknackste Melanie (Birgit Minichmayr) her. Pauls Frau Tanya (Lilith Häßle), eine erfolgreiche Schauspielerin, ist längst dem Filmemacher und Fotografen Roland Koch nahe. Pauls Vater Matthias (Peter Simonischek) ist Seniorchef einer nicht näher definierten Firma. Was bei uns an gutmenschentümlichem Gedankengut – scheinbar – allgemein akzeptiert ist und hochgehalten wird, zerpflügt er gleich mal so wortreich und wie bestimmt. Lisa (Mavie Hörbiger) geht zwar manchmal auf Demos für die Armen, aber wenn's ernst wird, gehört sie doch voll und ganz zur der in und um sich kreisenden Glashaus-Gesellschaft. Wer was sagt in diesem pseudo-elitären Zirkel, ist völlig egal. Sie sind – hier kommt der Titel „Komplizen“ her – eben aneinandergekettet durch Denkmuster und Verhaltensweisen. Ihr Komplizentum gründet im uneingestandenen Nicht-Weiter-Wissen. Was einer immerhin en passant ausspricht: „Die Welt hätte ein bißchen mehr von uns erwarten können.“
Es gibt eine zweite Ebene an Protagonisten, die dienstbaren Geister. Die Haushälterin Annamária Láng, eine putzige Erscheinung, traut sich viel zu sagen. Jürgen (Falk Rockstroh) scheint eine Art Vorarbeiter zu sein. Er nimmt eine beobachtende Position, aber keine Mittlerrolle ein. Er sieht viele Missstände und ist doch zu nah dran am „Establishment“. Jedenfalls sagt er vernünftige, hellsichtige Dinge.
Eine ganz interessante Figur ist der grobschlächtig in Erscheinung tretende Igor (Rainer Galke). Er ist hinter dem farbigen Fensterputzer-Mädel her, wird von den anderen halbherzig im #MeToo-Geiste zurechtgewiesen. Er bleibt zwielichtig und wird doch der einzige sein, der sich am Ende bei seinem Opfer aufrichtig entschuldigt. Alle anderen ergehen sich zuletzt in grandios aufgeblähten Monologen, in dene sie ihr Versagen einräumen und zugleich vor sich selbst entschuldigen. Ja doch, einer zieht eine selbstmörderische Konsequenz: Botho (Felix Rech), der es als Psychiater besser wissen müsste und es zuletzt sogar besser weiß, wirft sich vor den Zug.
Das Burgtheater hat seine Besten für dieses Projekt aufgeboten. Das hat sich gerechnet in scharfen Rollenprofilen. Des Beschreibens dürfte kein Ende sein, weil nicht nur Michael Maertens (der Nukleus in dieser Menschen-Gemenelage) starke Auftritte hat. Birgit Minichmayr legt Bravour-Stücke hin, und auf der anderen Seite der Exaltiertheits-Skala steht der leise Falk Rockstroh.
Aus all den Spintisierereien und Beziehungsgeflechten könnte man eine Soap Opera mit Dutzenden Folgen drehen. Simon Stone hat das – fürs Publikum durchaus kräftezehrend – verdichtet. Erst Mal Zustandsbeschreibungen all der in sich kreisenden, selbstreferentiell sich gebärdenden Leute. Dem macht ein Grüppchen Revolutionäre den Garaus. Da fliegen die Farbbeutel an die Glasfassaden. So geht man in die nach zweieinhalb Stunden dringend notwendige Pause. Dann – eine weitere satte Stunde – das große Farbe-Wegputzen, die großen Selbstmitleids-Monologe mit vielen Krokodils- und wenigen echten Tränen. Die meiste Selbsterkenntnis ist gespielt und Attitude. Mavie Hörbiger gestaltet Lisas Verzweiflung nach dem Selbstmord des Bräutigams aber eindringlich. Über die aufständischen Arbeiter wird sowieso immer nur geredet. Eigene Stimme bekommen sie (noch) keine, geschweige denn einen Platz auf der Bühne.
Simon Stone bleibt mit seiner Stücküberschreibung erstaunlich nahe an der Dramaturgie der Gorki-Vorlagen. Und an dessen Geist sowieso. Gorki wusste 1905 noch nicht, wie's in Russland weitergehen würde. Was einzig gewiss ist, spricht Peter Simonischek am Schuss aus: „Es ist aus für solche wie uns. Es ist aus, und wir sind selber schuld.“