Französischer Rossini und Verdi zum Auftakt
REST DER WELT / MÜNCHEN / AUFTAKT OPERNFESTSPIELE
01/07/14 Mit Anna Netrebkos Rollendebüt als Lady Macbeth und der Neuinszenierung von Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“ bot die Bayerische Staatsoper am Wochenende im ersten Fall Festspielwürdiges, im zweiten Fall zumindest eine längst fällige Wiederbegegnung.
Von Oliver Schneider
Um 18 Uhr hob sich am Samstagabend der Vorhang im Nationaltheater, live übertragen auf den Max-Joseph-Platz, für Rossinis „Guillaume Tell“, der dort seit fast 100 Jahren nicht mehr zu sehen war. Wenn das nicht ein Ereignis hätte werden können. Nikolaus Bachler hatte sich entschieden, Antú Romero Nunes, einen der jungen Shooting-Stars unter den Schauspielregisseure im deutschsprachigen Raum, mit der Regie zu betrauen. Es war seine erste echte Opernregie. Es scheint, dass er mit dem Tell-Stoff seine liebe Not hatte. Dass man ihn auf seine Aktualität befragt, ist richtig. Dass man ihn aber mangels persönlichen Bezugs so lange zurechtbiegt, bis man eine zum Teil neue Geschichte erzählt, ist es nicht.
Nunes misstraut der Schwarz-Weiss-Malerei: hier die aufrechten, guten Schweizer, angeführt von Tell und anderen Freiheitskämpfern, da die sie unterdrückenden, bösen Habsburger. Bei Nunes lebt das Volk zwar in Unfreiheit, zieht aber eine biedere Idylle mehr Freiheit vor. Es ist Guillaume Tell, der bereit ist, für die Freiheit jeden Preis zu zahlen, um das Volk in eine freie Idylle zu führen. Doch was ist besser? Unter Nazi-Schergen zu leben oder von einem Fanatiker in die Ungewissheit geführt zu werden? Für Nunes und sein Regieteam ist beides gleich schlecht.
Besser hätte man übrigens des 100. Jahrestags des Attentats von Sarajevo nicht gedenken können, war es doch auch damals der nationalistische Fanatismus, der mit in die Katastrophe führte. Nunes konfrontiert das Publikum vor allem mit der eigenen Vergangenheit: dem Mief der sechziger Jahre (Kostüme: Annabelle Witt), dem Bemühen in diesen Jahren, die braune Vergangenheit auszublenden und der dagegen rebellierenden jungen Generation.
Dazwischen gibt es ein paar folkloristische Einsprengsel, damit man nicht ganz vergisst, dass das Werk eigentlich in der Schweiz spielt. Das Volk muss natürlich nicht Gesslers Hut grüssen. Gessler trägt stattdessen die Maske des gehörnten „Fulehung“ (Berndeutsch für „fauler Hund“), der für den Hofnarren Karls des Kühnen steht. Die Einwohner der Stadt Thun im Berner Oberland schafften es, den Narren Karls des Kühnen in der Schlacht von Murten gefangen zu nehmen und trieben ihn solange durch die Stadt, bis er zusammenbrach.
Nach den gottlob geglückten Apfelschuss verfällt Tells Sohn Jemmy in einen traumatischen Schlaf, während die perchtenartigen Tschäggätta aus dem bernischen Lötschental ihren Spuk mit ihm treiben. Dazu erklingt übrigens endlich die zu Beginn gestrichene Ouvertüre, quasi als Einleitung zum zweiten Teil. Der Abend beginnt stumm mit der Ermordung eines Soldaten Geslers durch den Schweizer Leuthold, an die sich sofort das Hochzeitstableau anschließt, in dem der alte Melcthal gleich mehr als zwei Dutzend Paare segnet.
Überlegt haben sich Nunes und sein Team einiges. Zumindest bis zur Apfelschussszene im dritten Akt erschöpft sich die Umsetzung der Idee aber in statischem Rampensingen. Dann gibt es erst einmal die ersehnte Pause. Verschenkt hat Nunes auch die zahlreichen Chorszenen, in denen die Menschenmassen nur unmotiviert herumstehen. Der Damenchor hatte – ganz im Gegenteil zum Herrenchor – außerdem am Premierentag einen schlechten Tag (Einstudierung: Sören Eckhoff). Ermüdend, sogar enervierend ist schließlich die szenische Lösung (Bühne: Florian Lösche). Permanent werden schwarze Röhren vom Schnürboden heruntergelassen oder wieder hinaufgezogen, mal senkrecht, mal waagerecht, mal schräg. Nur wofür?
Zum Glück entschädigt der Abend musikalisch. Dan Ettinger lässt vor allem die lyrischen Bögen mit dem Bayerischen Staatsorchester sehr schön aufblühen und die Bläser sowie die tiefen Streicher plastisch hervortreten und setzt insgesamt auf filigrane Eleganz. Wenn es dramatisch wird, zum Beispiel in der Sturm- und Gewittermusik im vierten Akt, dürfte das Orchester allerdings lebendiger funkeln. Und schließlich hätte man nicht so viel von der genial komponierten Musik streichen müssen.
Erstklassig besetzt bis in die kleinsten Rollen ist das Ensemble. Michael Volle gibt den Freiheitskämpfer mit kernigem Timbre und Kraft. Dem höhenstarken Bryan Hymel bereitet die unangenehme Tessitura des Arnold Melcthal keinerlei Mühe, der unglücklich in die Habsburger-Prinzessin Mathilde verliebt ist und zunächst auf der Seite der verhassten fremde Vögte steht. Marina Rebeka gestaltet die Mathilde mit ihrer ebenmäßig geführten Stimme und weiss sowohl mit ihren Koloraturen als auch auf Linie zu gefallen. Die junge Russin Evgeniya Sotnikova gibt den Jemmy mit jugendlich-schmiegsamem Sopran, Günther Groissböck den verhassten Gesler, sekundiert vom bewährten Kevin Conners als Rodolphe.
Einen Abend, an dem alles gepasst hat, bot hingegen die Wiederaufnahme von Giuseppe Verdis „Macbeth“. Der Hype war natürlich groß dank Anna Netrebkos Debüt als Lady. Und sie hielt stimmlich und darstellerisch als rote Zora, was man von ihr erwartete. Diese Lady schreckt von Anfang an vor nichts zurück, um durch ihren zunächst schwächlichen Mann ganz nach oben zu kommen. Die meist mit Totenschädeln übersäte Bühne der noch immer gut funktionierenden Inszenierung von Martin Kušej bietet ihr den passenden Rahmen. Bei ihrem ersten Auftritt im ersten Akt erschrickt man förmlich ob des gewaltigen Volumens, das ihre Stimme heute besitzt. Wie immer kommen die Koloraturen etwas verschliffen. Die zentrale Schlafwandelszene hat noch Entwicklungspotenzial.
Simon Keenlyside als ihr Gatte besitzt ebenso viel Bühnenautorität wie die Netrebko. Sein Macbeth ist dramatisch zupackend. Heroisch lässt er sich von sechs Kinderhexen von der Macht blenden, die bei Kušej für die Nachkommen der von ihm und der Lady Getöteten stehen und somit die schlimmsten Feinde sind.
Joseph Calleja formt als Macduff in seiner einzigen Arie wunderbare Legatobögen, Ildar Abdrazakov trumpft als Banco auf. Paolo Carignani weiss den Abend auf die dramatischen Höhepunkte zuzuspitzen.