Für Männer „und noch mehr für Frauen“
CD-KRITIK / JOHANN HEINRICH ROLLE
07/01/16 Vor zweihundert Jahren noch galt er als ein Hochberühmter, fanden sich Abschriften seiner Werke zuhauf in den kirchlichen Chorarchiven. Umso gründlicher ist er heute vergessen, selbst in ur-evangelischen Landen: Johann Heinrich Rolle.
Von Reinhard Kriechbaum
Er ist vergessen, obwohl man sich bei manchem seiner Chorwerke das Wort „Hit“ schwerlich verkneifen kann. Die Doppel-CD mit 31 Motetten, gesungen vom Kammerchor Michaelstein unter der Leitung von Sebastian Göring, könnte man sich als tönenden Lockvogel parat legen. Heuer nämlich jährt sich Rolles Geburtstag zum 300. Mal.
Die Rolles in Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) waren eine klassische Musikerdynastie der Zeit. Vater Christian Friedrich Rolle war dort und bald drauf in Magdeburg Kantor. Zum Jurastudium hat man den jungen Johann Heinrich nach Leipzig geschickt: Auch wenn es nicht unmittelbar bewiesen ist, darf man annehmen, dass der hochmusikalische junge Mann dort Geige oder Bratsche in Bachs Collegium Musicum spielte und wohl auch bei den Konzerten im legendären Kaffeehaus Zimmermann mitwirkte. Als Geiger und Bratschist kam Rolle dann nach Berlin, in die Hofkapelle Friedrichs II. – eine neue, moderne Welt wohl für den jungen Musiker, den es dann aber doch wieder in die Magdeburger Provinz zurück zog. Völlig klar, dass er nach dem Tod des Vaters dort all dessen Agenden übernahm.
Sebastian Göring, Leiter des Kammerchors Michaelstein, ist ein Musiker, dem vor allem der Umgang mit dem Text wichtiges Anliegen ist. Auf beispielhafte Deklamation ist sein Vokalensemble getrimmt. Da braucht es keinen Text zum Mitlesen. In der Motette „Kommt her und schaut die Werke des Herrn“ ist vom Krieg die Rede und davon, wie der Herr Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt, Wagen mit Feuer verbrennet – doch immer, wenn es so richtig turbulent wird in der Musik, kommt die eindringliche Beruhigung: „Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin!“ Johann Heinrich Rolle war ein Musikdramaturg von Gnaden, setzt Textwiederholungen nach kalkulierter Wirkung.
Warum trotzdem das Vergessen als unerbittliches Urteil der Musikgeschichte? Diese Aufnahme, so mitreißend brillant sie ist, gibt auch eine mögliche Antwort: Da und dort kann man diesen Stücken eine gewisse Geschwätzigkeit nicht absprechen. Hatte Johann Heinrich Rolle sich einmal einen Effekt ausgedacht, dann hat er mit Wiederholungen noch und noch nicht gegeizt.
Außer Motetten hat Johann Heinrich Rolle viele Kantaten geschrieben, Oratorien und „Musikalische Dramen“, worunter man sich so etwas wie konzertante Opern mit religiösem Inhalt vorstellen muss. Mal warten, was das Jubiläumsjahr 2016 an Wiedererweckungen bringt. Den „galanten“ Stil, dem diese Musik zuzuschreiben ist, bescheinigte Friedrich Rochlitz 1825 in seinem Buch „Für Freunde der Tonkunst“: Einen „leiser Anflug von poetischer und künstlerischer Schwärmerei“, den man „erst in Ehren, dann im Spott – Empfindsamkeit nannte“, so schrieb er über Rolles Musik. Sie sei deshalb „anziehend für Männer, und noch mehr für Frauen“.