Vorstädte brennen nicht nur in Paris
KRITISCHE LITERATURTAGE SALZBURG
21/11/17 Verbrechen von Adeligen? Unrecht gegenüber Adeligen? Echt nicht die brennendsten unserer Probleme angesichts des Heraufdämmerns einer türkis-blauen (schwarz sind die Aussichten ja ohnehin) Regierung. Aber auch für ein scheinbares „Nischen-Thema“ ist - neben Netzfreiheit, Sammelklagen oder Globalisierung - Platz bei den „Kritischen Literaturtagen“ von 24.-26. November in der ARGEkultur.
Von Heidemarie Klabacher
„Außergewöhnliche Verlage, besondere Bücher und der direkte Kontakt mit den engagierten VerlegerInnen zeichnen diese einzigartige Buchmesse aus“, so Veronika Hafellner, Dieter Braeg, Josef Kirchner, Markus Grüner-Musil und Christian Lorenz Müller, die Veranstalter der „Kritischen Literaturtage“. Die alternative Buchmesse findet vom 24. bis 26. November in der ARGEkultur statt.
Der kritische Blick von Autorinnen, Autoren und Verlagen nimmt natürlich vor allem die Gegenwart und ihre Themen – von der neoliberalen Globalisierung, über die kapitalistische Verwendung des Computers bis hin zur Möglichkeit von Sammelklagen – in den Focus. Erstmals ist heuer das Literaturhaus Salzburg ein Kooperationspartner. Mit den Salzburger Verlagen, die am Freitag (24.11.) zu einer gemeinsamen „Langen Nacht“ einladen, sind auch Lyrik und Prosa vertreten. Wenn der Eindruck nicht täuscht, scheint die Literatur gegenüber den reinen Sachbüchern zu politisch-wirtschaftlich-rechtlichen Themen aufzuholen. Nun, die Sprengkraft der Literatur ist ohnehin unbestritten, gefürchtet gar die des Lachens.
Eine Art Schelmenroman aus den 30er Jahren der russischen Emigration in Paris ist etwa Michail Osorgins Roman „Der Freimaurer“, der vom Verleger Erich Liaunigg präsentiert wird. Er hat den Roman aus dem Russischen übersetzt. Die Edition Liaunigg wurde 2009 gegründet, Schwerpunkt ist Literatur aus Russland, herausgebracht wird neben Kinderbüchern und Lernhilfen zweisprachige Belletristik Russisch/Deutsch.
Dass von den „Kritischen Literaturtagen“ auch die Vergangenheit – und damit allfällige verklärende Sichtweisen – in den Blick genommen wird, fällt auf und interessiert. Beim Blättern im Programm 2017 bleibt der Blick unweigerlich hängen am Buch eines gebürtigen Lungauers, des 1975 geborenen Historikers und Übersetzers Georg Fingerlos: „Verlottertes Blaublut. Entadelte Schwerverbrecher in Österreich 1912–1918.“
Das mit der Aberkennung von Adelsprädikaten einhergehende mögliche Unrecht ist jetzt echt nicht das brennendste unserer aktuellen Probleme in türkis-blauen Tagen. Aber auch für ein solches scheinbares „Nischen-Thema“ ist Platz: „Im alten Österreich wurden jene Adeligen, die zu einer schweren Kerkerstrafe oder zum Tode verurteilt wurden, zwangsläufig entadelt. Im vorliegenden Buch werden die Adels-Suspensionen der sieben letzten Jahre der Monarchie – zweieinhalb davon in Friedens-, der Rest in Weltkriegszeiten – dargestellt. In dieser Zeit wurden 39 Adelige zu einer schweren Kerkerstrafe und vier zum Tod durch Erhängen bzw. Erschießen verurteilt.
Ihre Erlebnisse geben einen guten Einblick in die Methoden der Gaunerei in der späten franzisko-josefinischen und der kurzen Karlschen Ära, in die Staatsgewalt, die Gesetzgebung und in die Rechtssprechung. Sie verdeutlichen aber auch die Verdorbenheit, Schlechtigkeit und den Eigensinn mancher Abkömmlinge aus vornehmen Häusern.“ Barbara Tóth schreibt in ihrer Falter-Rezension (allein schon ein solche zu bekommen, gleicht einem Adelsprädikat): „43 Fallgeschichten hat Fingerlos anhand von Archiven, Medienberichten und Biografien rekonstruiert und in anekdotischem, unterhaltsamem Stil in Form kurzer Erzählungen aufgeschrieben. Es sind Geschichten, die von Untreue, Gaunerei und Schlimmerem erzählen, aber auch von der weitumspannenden k.u.k. Bürokratie, die die Adelstitel und ihre Aberkennung zu administrieren hatte.“
Ein wenig vertrauter ist uns das Thema des Buches „Das Netz in unsere Hand!“ von Thomas Wagner. Er fordert „eine demokratische Neuausrichtung der technologischen Entwicklung“, damit „die gerade erst begonnene Digitalisierung ihr Befreiungspotenzial entfalten kann, statt in der Sackgasse einer ökonomischen wie politischen Datenknechtschaft zu enden“.
Alessi Dell'Umbria legt in „Wut und Revolte“ – über keineswegs nur französische Zustände – den Finger in eine offene Wunde unserer Gesellschaft: „Der Autor beschreibt, wie die Bewohner der Vorstädte in ein System der Segregation getrieben wurden und sich feindlich gegen diese Welt wendeten, die sie als Feinde behandelt. Dell‘Umbria zeichnet nach, wie sich schon seit dem 19. Jahrhundert die Politik durchsetzte, bestimmte Bevölkerungsschichten in eine Art Gettos weg zu sperren, so dass man von ‚Apartheitspolitik‘ sprechen kann. Drogen einerseits und Fundamentalismus andererseits sind die Konsequenzen. Dell’Umbria’s Text liefert einen Schlüssel zur Erklärung islamistischer Attentate.“ Die Vorstädte von Paris sind auch die Vorstädte von London oder Köln. Vielleicht sogar des idyllischen Salzburgs.