Die Jahreszeiten des Lebens
NEU IM KINO / ANOTHER YEAR
15/03/11 Der Herbst bringt die Früchte der Gartenarbeit, bei den Menschen fällt die Ernte sehr unterschiedlich aus. - Der britische Regisseur Mike Leigh bietet seinen Stammschauspielern wieder einmal Gelegenheit all ihre Stärken auszuspielen.
Von Michael Russ
Wenn man selber in Glück und Harmonie lebt, kann man sich auch ein bisschen um Menschen kümmern, denen es nicht so gut geht. So sehen das zumindest die Therapeutin Gerri (Ruth Sheen) und ihr Mann, der technische Geologe Tom (Jim Broadbent). Und in ihrem Umfeld gibt es einige solcher Fälle. Gerris Arbeitskollegin Mary (Lesley Manville), Ende 50, hat eine schlechte Hand für Männer und eine sichere Hand fürs Weinglas. Auch Ken (Peter Wight) trinkt zu viel, er kann sich beim Essen kaum bremsen und obwohl er von seiner Arbeit angewidert ist, geht er nicht in Pension, weil ihm jeder Lebensinhalt fehlt. Tom und Gerri hören zu, sehen über Ess- und Trinkgewohnheiten hinweg, mit ihren Ratschlägen sind sie unaufdringlich. Wirklich gute Freunde eben.
Ken hat eine Schwäche für Mary, aber sie will nichts von ihm wissen. Sie hat nämlich beschlossen, dass der ledige 30jährige Joe (Oliver Maltman), Sohn von Gerri und Tom, der richtige Kandidat für sie sei. Der lässt sie freilich liebevoll ins Leere laufen, seine Eltern schmunzeln über Marys manchmal ins Peinliche gehenden Annäherungsversuche. Doch dann stellt Joe eines Tages seine Freundin Katie (Karina Fernandez) vor und Mary benimmt sich daraufhin unmöglich.
Gerri und Tom sind begeisterte Schrebergärtner und die Handlung des Films läuft parallel zu den Arbeitsphasen im Gartenjahr. So ist der Film in vier Kapitel Frühling, Sommer, Herbst und Winter aufgeteilt. Im Frühling ist alles voller Hoffnung, das Licht ist mild und übertönt so manche Falte. Der Sommer bringt viel Arbeit im Garten, ihre Freundschaften pflegen Gerri und Tom mit Gartenparties und Golfrunden. Der Herbst bringt die Früchte der Gartenarbeit, bei den Menschen fällt die Ernte sehr unterschiedlich aus. Der Winter bringt den Tod und das Licht ist gnadenlos.
Mike Leigh stellt hier Menschen einander gegenüber, die alle aus derselben Schicht stammen, sichere Arbeitsplätze haben und dennoch jetzt, da sie um die 60 sind, vor völlig unterschiedlichen Situationen stehen. Wo Ken und Mary die falsche Abzweigung genommen haben, bleibt offen. Auch Toms wortkarger älterer Bruder Ron hat es offensichtlich nicht geschafft, ein so glückliches Leben zu führen wie Gerri und Tom. In manchen Szenen ist es schmerzhaft die Protagonisten agieren zu sehen, man ist versucht schnell die Augen zu schließen, um die nächste Peinlichkeit nicht miterleben zu müssen.
Leigh beharrt immer darauf, Fragen zu stellen, aber keine Antworten zu liefern. Das hält er auch in „Another Year“ so. Die Frage nach der Selbstverständlichkeit des Alkohols in unserer Gesellschaft. Die Frage nach den Gründen der Einsamkeit so vieler Mensch in einer überfüllten Welt. Und ganz am Schluss die Frage, die sich dem Zuschauer einbrennt: „Wird es für Mary nach diesem Winter einen neuen Frühling geben?“