Träumend an der Berge Rand
JAHRESREGENT MAX BRUCH
10/01/20 Max Bruch, geboren am 6. Jänner 1838 in Köln als Sohn eines Polizeirats und einer Sängerin, gestorben am 2. Oktober 1920 in Berlin, zählt zu den „bekannten Unbekannten“ der Musikgeschichte. Was kennt man von ihm schon außer seinem populären ersten Violinkonzert und dem Kol Nidrei für Cello und Orchester?
Von Gottfried Franz Kasparek
Vielleicht noch das meisterhafte Oktett für Streicher, den berührenden Schwanengesang von 1920, vielleicht die Acht Stücke für Klarinette, Bratsche und Klavier. Auch die Romanze für Bratsche und Orchester ist hin und wieder zu hören. In seinem Gedenkjahr 2020 hat Bruch das Pech, im Schatten des alles dominierenden „Jahresregenten“ Beethoven zu stehen. Zu entdecken wären in seinem reichen Oeuvre unter anderem romantische Opern wie Die Loreley, groß angelegte Oratorien wie Arminius und Moses, viele Chorwerke mit und ohne Orchester, drei Symphonien, zwei weitere, durchaus gehaltvolle Violinkonzerte, die wundersame Schottische Phantasie und andere Stücke für Geige und Orchester, Orchestersuiten, ein Doppelkonzert für Klarinette und Bratsche, eines für zwei Klaviere und Orchester, Kammermusik und Lieder.
Zu Lebzeiten war Max Bruch einer der bekanntesten Komponisten Europas, dessen Werke auch in Amerika aufgeführt wurden. Er debütierte bereits als Elfjähriger, war später Hofkapellmeister in Sondershausen, Musikdirektor in Liverpool, Chorleiter in Berlin und ebendort ein sehr einflussreicher Kompositionslehrer, zu dessen Schülern so unterschiedliche Musiker wie Eduard Künneke und Ralph Vaughan Williams zählten.
Verbittert wegen nachlassenden Erfolgs starb er hoch betagt, hoch dekoriert und halb vergessen. In der Nazi-Zeit war sein Schaffen wegen der instrumentalen Phantasie über das Kol Nidrei, das jüdische Segensgebet, nicht gerne gesehen, obwohl Bruch selbst gar nicht jüdischer Abstammung war.
Zu seinen Leitsternen zählte Felix Mendelssohn, zu seinen besten Freunden und künstlerischen Partnern der Geiger Joseph Joachim. Dass sich in Bruchs Briefen einige wenige antisemitische Äußerungen und in seiner Werkliste Gelegenheitsstücke wie Lied der Deutschen in Österreich finden lassen, weist ihn als Kind seiner Zeit aus. Rabiater Nationalismus war ihm fremd.
Den internationalen Großerfolg des ersten Violinkonzerts von 1868 konnte Bruch nie mehr wiederholen. Das hat ihn 1893 zu einer, gottlob nie befolgten, scherzhaft grimmigen Verfügung in Form einer Xenie veranlasst: „Da sich in neuester Zeit das erstaunliche Factum ereignet, Daß die Geigen von selbst spielten das erste Konzert, Machen wir schleunigst bekannt zur Beruhigung ängstlicher Seelen, Daß wir besagtes Concert verbieten mit Ernst.“
Bruch war zweifellos traditionellem Formdenken und eingängiger Melodik verpflichtet. Der einmal gefundenen, sehr am Volksliedhaften orientierten deutschen Romantik blieb der in jeder Beziehung konservative Kämpfer gegen Wagner, Richard Strauss und Reger unerbittlich treu. Brahms war sein Gott und sein Verhängnis: Dessen im Grunde innovative Kunst konnte er nicht erreichen. Doch darf formaler Fortschritt nicht das einzige Kriterium großer Musik sein. Ebenso wichtig sind melodische Inspiration, persönliche Eigenart und innere Glaubwürdigkeit.
All dies zeichnet auch Max Bruchs heute kaum mehr beachtetes Liedschaffen aus. Der Text des mystisch-feierlichen Beginns der Mörike-Vertonung Um Mitternacht sei zitiert, denn sagt viel über die Atmosphäre der Musik von Max Bruch: „Gelassen stieg die Nacht an’s Land, lehnt träumend an der Berge Rand.“