Als Iwano-Frankiwsk noch Stanislau war
IM PORTRÄT / JURI ANDRUCHOWITSCH
08/06/10 Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch ist nach dem bosnischen Schriftsteller Dzevad Karahasan der zweite Dozent der Stefan-Zweig-Poetikvorlesung (9. bis 17. Juni) an der Universität Salzburg.
Von Reinhard Kriechbaum
Juri Andruchowytsch wird in den nächsten Tagen sein Werk präsentieren, in dem die europäische Idee und die Vermittlung zwischen den Kulturen zentrale Aspekte sind. Auftakt ist einer Lesung morgen, Mittwoch (9.6.) im Stefan Zweig Centre. Weiters gibt es bis 17. Juni Vorträge, Konversatorien und eine Podiumsdiskussion.
„Ein bißchen Sisyphos, ein bißchen Sacher-Masoch“, so hat sich der ukrainische Schriftsteller einmal selbst beschrieben: Die „orange Revolution“ lieg
e weit zurück, fast alle Hoffnungen seien begraben, „fangen wir wieder von vorn an...“. Während einige Staaten Mittelosteuropas Mitglieder der EU geworden sind, benötigen Menschen aus der Ukraine ein Visum, um in die EU einzureisen. Galizien, Lodomerien, Bukowina – noch kein Jahrhundert ist es her, dass diese Gebiete zur Monarchie rechneten und Wien die Metropole war. Das ukrainische Lemberg war übrigens die viertgrößte Stadt der Monarchie.
„Wo befindet sich Mittelosteuropa und was kann es sein?“ - Das ist folgerichtig das Thema der ersten Vorlesung, am Donnerstag (10.6.) von 17 bis 19 Uhr in der Bibliotheksaula. Der Ort, an dem Juri Andruchowytsch 1960 zur Welt kam, ist ein gutes Beispiel dafür, wie weit Mitteleuropa eigentlich reicht: Iwano-Frankiwsk ist eine gar nicht so kleine Stadt etwa auf halbem Weg zwischen Lemberg und Cernowitz. Wie so viele Orte in der Westukraine, dem früheren Galizien, spürt man dort noch heute angesichts der gründerzeitlichen Bauten den Atem der Monarchie. Stanislau hat Iwano-Frankiwsk damals geheißen.
„Andruchowytsch hat es aufs Paradox angelegt: auf die Verbindung von Katastrophe und Karneval, von Poesie und schwarzem Humor, von Phantastik und Sozialkritik.“ So urteilte die NZZ über Andruchowytsch' Roman „Zwölf Ringe“. Der Autor lässt darin einen Österreicher mit galizischen Wurzeln in den neunziger Jahren mehrmals durch die Ukraine reisen, und der Protagonist beobachtet fasziniert eine Melange aus Kommerzialisierung, Folklore, Resowjetisierung und Habsburg-Nostalgie.
Andruchowytsch studierte in Lemberg und Moskau. Nach Aufenthalten in Westeuropa und den USA lebt er heute wieder in seiner Heimatstadt in der Ukraine. Er debütierte als Lyriker, publizierte Essays und zahlreiche Artikel zu aktuellen Themen. 2006 wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
In seinem jüngsten Roman „Geheimnis“ sprechen sieben Tage lang Egon Alt und Juri Andruchowytsch in Berlin über sein Leben als Schriftsteller und die Zeit, in der er lebt - selten greifen Privates und Politisches so eng ineinander wie in diesem ironischen Porträt eines Autors, der sich selbst nicht über den Weg traut.
Am Dienstag, 15. Juni findet um 20 Uhr in der Edmundsburg am Mönchsberg eine Podiumsdiskussion zum Thema „Geopoetische Zonen Europas“ statt. Mit Juri Andruchowytsch diskutieren unter anderem die bulgarische Übersetzerin und erste Zweig-Stipendiatin in Salzburg, Fedia Filkova, außerdem Martin Pollack, der viel aus dem Polnischen übersetzt hat, und die auf osteuropäische Literaturen spezialisierte Lektorin Katharina Raabe. Cornelius Hell, selbst ein Kenner vor allem der Kultur Litauens, leitet die Diskussion.