Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie
KUNSTVEREIN / PUNCTUM
08/08/14 Der neue Direktor des Salzburger Kunstvereins, der Ire Seamus Kealy, stellt sich mit seiner ersten von ihm gestalteten Ausstellung vor. Es ist eine Fotoschau mit Hintersinn. Seamus Kealy hat als Kurator nämlich nicht Fotografien, die an den Wänden hängen, ausgesucht.
Von Werner Thuswaldner
Kealy hat fünfzig Personen, Kulturschaffende – Künstler, Fotografen, Schreiber, Theoretiker und Kuratoren – gebeten, jeweils eine Fotografie für die Schau auszuwählen. Entweder eine eigene oder eine von jemand anderem. Dabei geht es nicht um ein Abwälzen der kuratorischen Verantwortung auf andere, sondern um den Versuch einer Klärung. Die Ausstellung besteht gleichsam aus zwei Teilen: einem sinnlich-anschaulichen und einem theoretischen.
Nach welchem Kriterium sollte die Auswahl erfolgen? Hier kommen theoretische Überlegungen ins Spiel, die der französische Philosoph Roland Barthes (1915-1980) in seinem Essay „Die helle Kammer“ angestellt hat. Barthes beschreibt darin zwei mögliche Beschäftigungen mit der Fotografie. Die eine nennt er „studium“. Der Betrachter, die Betrachterin, vergewissert sich darüber, was er oder sie auf der Fotografie sieht. Die zweite Beschäftigung mit der Fotografie nennt er „punctum“. Hier ist der Betrachter, die Betrachterin, nicht aktiv, sondern wird durch etwas Bestimmtes im Bild, das „punctum“, mehr oder weniger spontan angesprochen. „Das ,punctum‘ einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)“, schrieb Barthes.
Die Eingeladenen waren also aufgefordert, jeweils eine Fotografie auszuwählen, das für sie im „punctum“-Verständnis relevant ist. In einem begleitenden Text begründen sie ihre Entscheidung.
Ein Beispiel: Der Deutsch-Schwede Felix Gmelin steuert einen Screen bei, den er während einer Skype-Unterhaltung mit seiner Mutter gemacht hat. Von der Frau ist nur das weiße Haar zu sehen, weil ihre Bildschirm-Kamera nicht richtig positioniert ist. Im Hintergrund hängen Fotos an der Wand, die wichtige Lebensstationen der Frau dokumentieren und eine Fülle von Assoziationen speichern. Felix Gmelin kann darüber im begleitenden Text eine Menge erzählen. Am Schluss fragt er sich zweifelnd, ob jedes Foto auf ein „punctum“ hin untersucht werden könne. Und am Ende wird er noch einmal ganz persönlich: „Wenn ich dieses weiße Haar auf Skype sehe, befürchte ich manchmal, dass dies das letzte Bild ist, das ich von meiner Mutter sehe.“
Der Schriftsteller Geoff Dyer spricht der digitalen Fotografie alle Qualitäten der Fotografie davor ab. Im Fall des Fotos von dem verstorbenen Robert Lebeck – ausgesucht hat es Mark Sealy –, das den Augenblick zeigt, da ein Schwarzer dem belgischen König den Degen entreißt, scheint das „punctum“ etwas Plakativ-Offensichtliches zu sein. Bezeichnend ist die Sicht der jungen tschechischen Fotografin Eva Kotaktkova auf das von ihr gewählte Foto. Sie stellt sich vor, das Bild fände Verwendung in einer psychiatrischen Sitzung, und sie entwirft mögliche Dialoge zwischen Arzt und Patient dazu.
So gut wie jedes Beispiel verdiente es, hier besprochen zu werden.
Die Ausstellung fragt, was Fotografie heutzutage vermag. Darauf gibt es eine Menge vorsichtiger Antworten, Stellungnahmen. Es ist außerordentlich ergiebig, die Bilder und Kommentare zu vergleichen, die sich häufig selbst in Zweifel ziehen und deutlich machen, wie ungesichert das Gelände ist, auf dem man sich bei der Taxierung des Mediums bewegt. Manche Fragestellungen gehen über die Fotografie hinaus. Wie z. B. jene: Was ist in einem Bild vorhanden, und was trage ich von mir aus interpretierend in ein Bild hinein?
Es wird im Lauf der Ausstellung nicht bei den fünfzig Beispielen bleiben. Besucherinnen und Besucher sind aufgefordert, eigene Beiträge in Form von Fotos samt „punctum“-Kommentierung beizusteuern.