Die Legende lebt
LANDESTHEATER / WILHELM TELL
25/04/16 Das Publikum mit „Regie“ zu ärgern, ist gar nicht mehr so leicht. Sex, Gewalt, Blasphemie und andere Kindereien ist man gewohnt zu dulden. Und Shakespeare wird weitere vierhundert Jahre leben. „Überdauern“ wird auch Friedrich Schiller, dessen „Wilhelm Tell“ immerhin bruchstückweise im Landestheater Premiere hatte.
Von Heidemarie Klabacher
Neu an der Produktion „nach Schiller“ ist die staunenswerte Direktheit, mit der dem Publikum vor Augen geführt wird, dass man es nicht für reif erachtet, Regietheater zu begreifen. Die Regisseurin hat es für gut befunden, ihre Gedanken zum Stück – „Interpretation“ hat man das früher einmal genannt und Oberstufenschüler mach(t)en so was als Hausübung – in eine eigene neu geschriebene Rolle zu packen und sich so mit Schiller auf eine Stufe zu stellen.
Die „Legende Tell“ hat Fleisch und Blut und die Gestalt von Christoph Wieschke angenommen. Das Spannende ist nun, dass just diese dazu erfundene Figur die Produktion am Landestheater zusammenhält und über zahlreiche Langatmigkeiten besonders im ersten Teil hinweg (sehen) hilft.
Eine unwilligere Legende lässt sich nicht wünschen: Christoph Wieschke als „Legende Tell“, einen schwarzen fast bodenlangen reich bestickten Schal um den Hals, brummelt und grummelt, wird unsanft aus versoffenem Schlaf geweckt, und erzählt. Erzählt widerstrebend. Etwa davon, dass nicht sicher ist, dass es sie, die „Legende“, als historische Person namens Wilhelm Tell überhaupt je gegeben hat (hat eh keiner angenommen; noch immer sitzen Bildungsbürger im Theater und lassen sich geduldig ihre Un-Bildung vor Augen führen). Interessant ist das Referat über die Folgen von Schussverletzungen im Gehirn. Bolzenschüsse (Tell/Armbrust/Anspielung!) sind jedenfalls besonders gemein.
Von wegen Bolzen. Recht hübsch sind die verschiedenen „Augenzeugenberichte“ über den legendären „Apfelschuss“. Hier dekliniert die Regisseurin wortreich durch, was Oberstufenschüler auch heute noch in der Schule lernen: Auf das, was die Medien verbreiten - und sei das Medium ein „Schauspiel in fünf Aufzügen“ - ist kein Verlass. Womit sie ja Recht hat. Auch, dass es Atembeschwerden verursachen kann, wenn einem wie Geßlers Sohn der Vater ermordet wird, bestätigt die bessere Ratgeber-Literatur. Schillers Geßler hat keinen Sohn (bzw. dieser keine eigene Rolle). Aber von 46 Figuren bei Schiller, und zwar ohne „Barmherzige Brüder“ oder „Viele Landsleute, Männer und Weiber aus den Waldstätten“, sind im Landestheater ohnehin nur acht Personen übrig geblieben. Da darf Geßler einen Sohn haben.
Vom komplexen, mit zahlreichen Figuren und aus mehreren Handlungssträngen gebauten Schiller-Drama bleiben in der Radikalfassung nichts als leere Namen. Nichts bleibt auch von der Vielschichtigkeit der Grundfragen des Dramas etwa nach der notwendigen Balance zwischen den Handlungen eines Einzelnen und den Handlungen eines Kollektivs. Die Aktualität stünde im Stück, das deswegen ja auch „Klassiker“ heißt.
Nicht einmal Apfelschuss-Folklore bleibt. Lustig ist dafür, dass die „Legende Tell“ aus einem Schweiz-Reiseführer vorliest, der vom Besuch des Rütli (der Schwur-Hügel ist eine geografische Tatsache) wegen Touristen-Nepp ganz entschieden abrät. Die Produktion hat durchaus da und dort Witz.
Vom Text, egal ob Schiller oder Nicht-Schiller, kommt rein akustisch im Zuschauerraum wenig an. Nur Gregor Weisgerber als Wilhelm Tell und Christoph Wieschke in der Doppelrolle Tell Legende/Geßler versteht man ohne Probleme. Neben wenig ausgeprägter Sprechtechnik der Darstellerinnen und Darsteller, sorgt auch die Ausstattung für Hör-Erschwernis: Verschiedenfärbige Blechplatten bilden das beeindruckend schlichte, oft geradezu beängstigende Bühnenbild von Eva Musil. Aber ob hängend oder liegend – Blechplatten scheppern „naturgemäß“ und übertönen denn auch immer wieder das oft nur mangelhaft artikulierte Wort.
„Ist ihnen schon einmal aufgefallen…“, beginnt das Stück. Immer wenn die Situation irgendwo „brenzlig“ werde, würden aus dem Keller des Volkstümlichen diverse Legenden oder Mythen auftauchen, heißt es sinngemäß. „Ist ihnen schon einmal aufgefallen…“, heißt es dann auch am Schluss. „Achtung zyklischer Dramenaufbau“ will das wohl mitteilen. Ach ja, Regie und Bühnenfassung: Agnessa Nefjodov.