Ein Herz für (fast) alle Menschen
ARGE KULTUR / THEATER BODI END SOLE / ÜBERALL UND NIRGENDS
22/04/16 Tatort Sperlingstraße. Wie die Stadt heißt und wo sie liegt, spielt keine Rolle. Hier jedenfalls wiederholt sich Geschichte: Einst wurden hier Holocaust-Überlebende „zwischengelagert“ und zur „Weiterreise“ Richtung Palästina gedrängt. Jetzt endet hier ein in die andere Richtung fließender Flüchtlingsstrom. Und erneut macht sich in der Bevölkerung Widerstand breit.
Von Christoph Pichler
Einen Bogen von den „Displaced Persons“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis herauf zu den Flüchtlingen von heute spannt Vladimir Vertlib in seinem Stück „ÜBERALL NIRGENDS lauert die Zukunft“, das am Donnerstag (21.4.) in der Regie von Christa Hassfurther in der ARGEkultur seine Uraufführung feierte.
Ein Anschlag auf die Flüchtlingsunterkunft sorgt nicht nur für wachsende Unruhe bei den sich endlich in Sicherheit Wähnenden, sondern bringt auch die Bürgermeisterin in die Bredouille. Sie hat langsam die Schnauze voll von den vielen tragischen Geschichten, die sie längst nicht mehr zu Tränen rühren, von den vielschichtigen historischen Hintergründen, die sie erst auf Wikipedia nachschlagen muss, und vor allem von den politischen Auswirkungen auf sich und ihren anstehenden Wahlkampf.
„Ein Herz für alle Menschen“, lautet nun ihr neuer philanthropisch anmutender Slogan, doch im eigenen Büro nimmt sie sich kein Blatt vor den Mund. Vor lauter Syrern sei man inzwischen ja fast schon froh über die noch vor kurzem so ungeliebten Türken. Die jungen Männer, die nun ankämen, hätten nämlich nur Allah oder Frauen im Kopf – oder beides. Auch hat sie auch für die spezifischen Probleme christlicher Syrer, die sich nicht mit den Moslems in einen Topf geworfen sehen wollen, kein Verständnis. „Atmosphärisch sind sie Moslems, sie haben eine muslimische Aura“, erklärt sie ihnen die westliche Sicht auf nahöstliche Befindlichkeiten.
Das Erste, was bei der Inszenierung von Christa Hassfurther ins Auge fällt, ist das ausufernde Bühnenbild von Alois Ellmauer. Den Boden bedeckt ein gigantisches Gitternetz, das aussieht wie ein eingestürztes Gerüst oder ein niedergerissener Maschendrahtzaun. Durch diesen Hindernisparcours stakst - neben Flüchtlingen, die hier etwa ihre Überfahrt im Boot nachstellen, und neben den bis zur Paranoia besorgten Bürgern und Politaktivisten jeglicher Couleur - vor allem der greise David, der wie ein Geist aus der Vergangenheit durch die Szenerie spukt.
Auf der Suche nach einer heißen Story hält Anna Russegger als eifrige Journalistin auch Jurij Diez in der Figur des David ihr Mikrophon pflichtbewusst unter die Nase, während Salim Chreiki als syrischer Flüchtling Ibrahim beginnt seine Schicksalsverwandtschaft mit dem alten Juden zu erkennen.
Der Chor der Bürgerinnen wird von Erika Fehrer angeführt. Sie wettert als „Sprecherin der Friedensliga für ein islamfreies Europa“ gegen „sogenannte Flüchtlinge“, die den Westen angesichts seiner Willkommenspolitik auslachen, und die „Gutmenschen-Mafia“. Noch deftigere Parolen überlässt sie den tatkräftigen Recken der „ARGE Borderline“. Angesichts dieser explosiven Gemengelage ärgert sich Dorit Ehlers als Bürgermeisterin vor allem darüber, dass „es ausgerechnet mir passiert“. Hätte man die Ägäis rechtzeitig vermint, müsste sie sich jetzt nicht mit all diesen Problemen herumschlagen.
Es herrscht ein buntes Treiben in der Kooperation von Theater bodi end sole und ARGEkultur. Neben einem Kernteam an professionellen Schauspielern legen sich nämlich auch zahlreiche Theaterbegeisterte mit und ohne migrantischem Hintergrund, vom Kind bis zur Omi, voll für das Stück ins Zeug. Durchsetzt mit poetischen Momenten wie einem Flöten-Intro, Gedichten und Liedern, oder durchsetzt mit absurd komischen Szenen (wie etwa dem Versuch, sich die Suche nach einer billigen Putzfrau als edle humanitäre Hilfsmaßnahme schönzureden) sucht das Stück nach der Balance zwischen Realismus und Idealismus. Meist freilich findet sich nur eine unangenehme Melange von beiden, die stets in die eine oder andere Richtung kippen kann.
Wahre Alltagshelden sind hier nicht zu entdecken, geschweige denn die gefürchteten „Gutmenschen“. Dagegen sind die Asylgegner und -kritiker teils schon fast schmerzhaft satirisch überzeichnet und müssen für einige befreiende billige Lacher herhalten. Das Stück bleibt aber dennoch stimmig und legt den Finger in viele offene Wunden, ob sie nun frisch aufgerissen sind oder eigentlich längst verheilt sein sollten.