Die „Märkte“ waren schon immer schuld
SCHAUSPIELHAUS / DIE HEILIGE JOHANNA DER SCHLACHTHÖFE
20/09/13 Ein Stück „weiter von uns entfernt als das Steinzeitalter“ ortete die „Welt“ anlässlich der posthumen Uraufführung von Brechts „Heiliger Johanna der Schlachthöfe“ im Jahr 1959. Der Autor war da schon gestorben. Das Stück hatte er rund um den „Black Friday“, den New Yorker Börsenkrach 1929, geschrieben.
Von Reinhard Kriechbaum
Tatsächlich uralt war das Stück bei der späten Uraufführung nach dreißig Jahren – doch heute hat es wieder an Brisanz gewonnen: Die ominösen „Märkte“, die sich angeblich ganz von selbst regeln und an denen Wohl und Wehe der Weltbevölkerung hängen, funktionieren heutzutage nicht anders als in der Zwischenkriegszeit. Brecht hat ihnen Namen gegeben – zuvorderst jenen des Pierpont Mauler, der einmal das Fleisch, lebend oder in Konservenform, zurückhält und dann wieder auf den Markt wirft, immer auf den zu erzielenden Bestpreis schielend. Die Konkurrenz verblutet, und zwischenzeitlich blutet wohl er selbst auch, aber gleich hat er „die Märkte“ wieder umso fester im Griff. Heutzutage wäre Mauler CEO eines internationalen Konzerns oder einer weltweit tätigen Bank.
Diesen Pierpont Mauler also, dem im Schauspielhaus Salzburg Volker Wahl ein smartes Pokerface und gern eine recht scheinheilige Miene gibt, lässt Brecht manchmal in gestelzten Sätzen sprechen. So wird deutlich, wie weit sich er und seine Kumpanen von der (tristen) Lebensrealität des gewöhnlichen Volkes entfernt haben. Auch das kommt einem heute wahrscheinlich viel bekannter vor als dem „Welt“-Kritiker der Uraufführung in den Jahren, als soeben die Wirtschaftswunder-Generation in die Startlöcher gestiegen war.
Das Volk: Es hungert, und es ist schlecht. Erst kommt das Fressen, dann die Moral, hat Brecht in der zeitnahen „Dreigroschenoper“ geschrieben. Hier sagt Mauler: „Mit Ochsen hab ich Mitleid, der Mensch ist schlecht“, und lässt Jeanne Dark teilhaben an einem Crashkurs der scheinbar rohen Sitten. Sie kontert, er habe ihr nicht die Schlechtigkeit, sondern die Armut der Leute vorgeführt.
Diese armen Leute: Regisseur Thomas Oliver Niehaus formt so etwas wie Antikenchöre in individueller Kammermusikbesetzung (Daniela Enzi, Simon Ahborn und Theo Helm bilden das Grüppchen). Sprache und Musik-Elemente (Komposition: Patrick Schimanski) sind überhaupt ganz wichtig in dieser Bühnenversion, die eher nach szenischer Lesung aussieht (Bühne, Kostüme, Video: Julia Libiseller). Für alle gibt es Sessel, ein langes Lesepult gliedert den Raum nach hinten hin, wo eine Art Schaubude steht. Dorthin ziehen sich die Protagonisten zurück, wenn sie besonders arg dozieren und deklamieren müssen. Brecht hält in dem Stück ja nicht hinterm Berg mit knochentrockener Kommunismus-Didaktik. Eine Projektionsfläche und zwei altmodische Fernsehgeräte teilen uns manche Sentenz mit.
Ja, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ ist ein mühsames Stück. Das verbirgt diese Aufführung nicht, die inklusive Pause volle drei Stunden dauert und einem keine Minute kürzer vorkommt. Auf der anderen Seite lichtet der Regisseur die Sentenzenbrühe, lenkt die Aufmerksamkeit auf manch bipolare Verhaltensauffälligkeit der Protagonisten. Mauler ist ebenso wenig nur schlecht wie Jeanne Dark ein blütenweißer Engel.
Sinikka Schubert trägt als Jeanne eine goldfarbene Tasche. Auch dann noch, wenn sie längst mit den revoltierenden Konservenfabrik-Arbeitern packelt, ihre gutbürgerliche, tendenziell besserwisserische Wesensart also hinter sich gelassen hat. Eine interessant gezeichnete, sich entwickelnde, stets ambivalente Figur. Sinikka Schubert changiert gut zwischen gezügelter Leidenschaft und latenter Naivität.
Olaf Salzer (Slift) ist ein souverän-schurkischer Handlanger des Mauler, Marcus Marotte und Albert Friedl (Cridle und Graham) stehen für die Opfer in den eigenen Reihen der Besitzenden. Der Konservenfabrikant Lennox, der als erster dran glauben muss, ist überhaupt nur mehr als bekleidetes Skelett mit Dollar-Symbol auf der Krawatte gegenwärtig.
Ganz schlecht kommt bei Brecht die Heilsarmee weg. „Die schwarzen Strohhüte“ heißen diese Leute hier – sie machen faule Versprechungen und arrangieren sich doch bestens mit denen auf der Butterseite der Wirtschaft. Antony Connor und Katharina Pizzera agieren in den dankbaren Rollen, letztere kann auch ihre musikalischen Fähigkeiten ausspielen. Das sind also jene, die für Gott „die Trommel rühren“, ihn „wieder einführen“ wollen, „auf dass er Fuß fasse in den Quartieren des Elends“. Indem Jeanne Dark sich löst von diesen falschen Propheten, aber entschieden zu viel Vertrauen in Mauler setzt, ist sie schon zum Scheitern verurteilt.
Nicht wenig Konzentration wird vom Publikum verlangt, aber die Aufführung ist gut genug, dass sich dieser Einsatz lohnt. An Aktualität fehlt es dem Stoff ja nicht, und man malt sich gern aus, wer von den hier vorgeführten Prototypen welche Rolle einnähme in unserem globalisierten, neoliberalen Wirtschaftssystem. Es gibt deutlich bequemeres Theater.