Übersichtlich arrangierter Seelen-Tort
LANDESTHEATER / ANNA KARENINA
16/04/12 Auch die russische Männerseele ist ein weites Land. Gerade deshalb, weil Schnitzlers gleichnamiges Stück eben jetzt auf dem Landestheater-Spielplan steht, fällt einem zu der Dramatisierung von Tolstois Roman „Anna Karenina“ die Weitläufigkeit des eurasischen Psycho-Kontinents auf.
Von Reinhard Kriechbaum
Völlig egal also, ob die Protagonisten nun Semmering, Rax oder die russische Birkenwaldunendlichkeit vor Augen haben. Die Familienprobleme sind ähnlich, Entfremdung und Vereinsamung in etwa gleich. Ab Wien ist die Bahnreise in die Sommerfrische allerdings kürzer. Anna Karenina, die immerhin zwischen St. Petersburg und Moskau hin und her reist, hatte entschieden mehr Zeit, am attraktiven Herrn Wronski Gefallen zu finden und sich die Armseligkeit ihres die Polit-Strickleiter sich hoch hantelnten und einzig auf eine weiße Weste bedachten Tugendbold-Gatten bewusst zu machen. Rundum nämlich huldigt man sonst den Vergnügungen des Seitensprungs (Annas Bruder Stepan ist ein Spezialist im Rollenspiel zwischen Lebemann und treu sorgendem Familienvater). So etwas kommt im Hause Karenin nicht in Frage, denn der Haushaltsvorstand ist die Korrektheit in Person, er pflegt das Rechtverhalten in Tiefkühl-Dauerkonservierung. Kein Klima für Gefühle oder den Gedeih von zarten Liebes-Trieben.
Eine Dramatisierung eines solchen Epos läuft notwendigerweise auf radikale Verknappung hinaus. Wie viel Lokalkolorit braucht es? Im besten Fall entstünde auf der Bühne etwas den Tschechow’schen Stücken Vergleichbares. John von Düffel als Autor/Dramaturg hat sich für radikalen Anti-Tschechow entschieden und reduziert Tolstois Riesen-Plot auf die unmittelbaren Beziehungsfäden: kurze, knappe, präzise Streiflichter auf das Wer-mit-Wem und auf den jeweils unmittelbar darauf fußenden Seelen-Tort. Für Psychoanalytiker mag es die helle Freude sein, die Dinge so glasklar seziert vorgelegt zu bekommen. Fürs Landestheater-Publikum, so schien es, war es dann doch etwas zu wenig Aura. Es reichte am Ende der Premiere (Samstag, 14.4.) für dezidiert höflichen Beifall, aber mehr war’s schon nicht.
Schnörkellose Konversations-Tragödie ohne jeden Lokalkolorit, insgesamt eine gleichsam von außen an- und ausgeleuchtete Folge von Ehe-Szenen, die den Betrachter (und vermutlich auch die Betrachterin) sonderbar kalt lassen. Die Regisseurin Tessa Theodorakopoulos hat streng darauf geachtet, Äquidistanz zu den Figuren zu halten. Es wäre ja ein leichtes, ein Frauen-Drama zu destillieren. Ulrike Walther in der Titelrolle taugt irgendwie nicht als Idenifikationsfigur für große Gefühle: zu überdreht ist sie, wenn sie beschwipst ist, zu kühl, wenn sie ihres Bruders Frau als Eheberaterin stützt. Wenn sie selbst, nach Fehlgeburt mit dem Liebhaber sozusagen auf der Flucht vor der eigenen Courage, in eine Sinnkrise als Frau und Mutter schlittert, gerät ihr auch das so exaltiert, dass man letztlich viel Sympathie mit dem Ex-Ehemann und dem sich davonmachenden Lover aufbringt.
Irgendwie hat man sich an den durchwegs schematisch gezeichneten Figuren bis zur Pause satt gesehen: an Gero Nievelstein als hyper-pedantisch-kortrektem Karenin, an Peter Marton als Wronski, der den Beau ein wenig aufdringlich, fast schon präpotent heraushängen lässt. Wie arm Dolly als betrogene Ehefrau ist, zeigt Claudia Carus mit verhärmter, maskenhafter Miene. Ihr Mann, Anna Kereninas Bruder Stepan, ist dagegen eine dankbare Rolle: Er hat einen jovialen Ton und routinierte Gesten drauf, um den lieben Familienmenschen zu mimen und uns doch spüren zu lassen, dass er es in Sachen Damenwelt faustdick hinter den Ohren hat.
Und dann ist da noch das junge Paar. Der in Liebesdingen wenig gewandte und daher verhaltensauffällige Lewin findet in Sebastian Fischer einen Darsteller, der zwischen sozialer Intellektualität und Gutsherren-Dasein aufgerieben wird. Dass ihn Zweifel plagen, ob Kitty – zum Anbeißen herzlich-doof: Shantia Ullmann – die Frau fürs künftige Leben ist, versteht man nur zu gut. Die nächste Katastrophe ist vorprogrammiert.
So geht das also zwei Stunden dahin, in einer kargen, aber stimmungsvollen Dekoration von Manuela Weilguni. Fulminant stimmungsvoll die Szene am Eislaufplatz (man schlittert ohne Schlittschuhe), und von cineastischem Wert auch, wenn die imaginäre Dampflok einfährt. Aber dann am Ende, wenn vorne noch die Spielzeugeisenbahn von Anna Kareninas Sohn steht, die Mutter sich vor den Zug wirft und der junge Lewin, wie üblich tief in Gedanken, einen Kreisel in Bewegung setzt: Da wären alle optischen Metaphern für ein ans Herz greifendes Finale da. Aber den Weg in die Seele haben Dramaturg, Regisseurin und Ensemble zu dem Zeitpunkt längst mit kühlem Psycho-Design zugestellt.