The dinosaurs roam the earth
LANDESTHEATER / KAMMERSPIELE / PTERODACTYLUS
16/01/12 Das Aussterben der menschlichen Spezies im Kleinen als überreiches Familienpanorama vom Mesozoikum bis zum Holozän: „Pterodactylus“ feierte am Samstag (14.1.) unter der Regie von Marco Dott Premiere in den Kammerspielen.
Von Harald Gschwandtner
Nicky Silvers 1993 in New York uraufgeführter Zweiakter „Pterodactylus“ fordert das Publikum. Eigentlich in der amerikanischen Tradition des Familiendramas (Tennesse Williams, Arthur Miller) stehend, changiert er zwischen der Bankrotterklärung des American Dream und komödiantischen Slapstickszenen. So wechselt auch im Premierenpublikum Bedrücktheit ob der schonungslosen Offenlegung traumatischer Erfahrungen mit belustigtem Gelächter.
Das familiäre Elend, das Marco Dott in seiner Deutung des Stoffes präsentiert, ist umfassend: Der Vater (Axel Meinhardt) stellt den vollkommen in seiner Arbeit aufgehenden, den emotionalen Haushalt seiner Familie gerne ignorierenden Haustyrannen vor, seine Gattin Grace (Ulrike Walther) die fast zwangsläufig alkohol- und kaufsüchtige Meisterin verhüllenden Smalltalks. Tochter Emma (Shantia Ullmann), als Kind vom Vater missbraucht, eine hypochondrisch veranlagte Asthmatikern mit schweren Gedächtnisstörungen, ist auf der verzweifelten Suche nach Nähe, findet Rückhalt bei einem armen Salatbarkellner (Peter Marton) – und will nach nur drei Wochen heiraten.
Als in dieses Setting die AIDS-Erkrankung des heimgekehrten Sohnes Todd (Tim Oberließen) einbricht, führt dies keineswegs dazu, die eigenen festgefahrenen Positionierungen im familiären Feld zu überdenken. Todd entdeckt kurz darauf Knochen im Garten, die sich nach und nach als das Skelett eines Dinosauriers entpuppen. Damit wird eine zusätzliche Ebene eröffnet, die den Verfall der Familie Duncan in die großen Bögen der Erdzeitalter und ihrer Lebewesen integriert. „The dinosaurs roam the earth / Where I end and you begin“, heißt es bei der britischen Band Radiohead einmal. Auch in „Pterodactylus“ werden Dinometaphern zum Diagnoseinstrument von Entfremdung und unmöglicher Nähe.
Selbst tiefgreifende Emotionen werden in dieser Familie bloß als Maske getragen: Weder die behaupteten Liebesschwüre noch die Versuche, den einstigen familiären Zusammenhalt zu beschwören, wirken hier mehr authentisch. Die Beteuerungen der Eltern, mit ihren Kindern doch so vieles gemeinsam zu haben, sind leere Sprachhülsen zur Unzeit, wenn der Zusammenbruch aller stabilisierenden Strukturen längst beschlossene Sache ist. „Gott“ oder „Familie“ müssen als rhetorische Schablonen nur noch herhalten, wenn sie sich in die eigenen Rechtfertigungsstrategien integrieren lassen.
Obschon die zeitweilige Drastik der Sprache und die einschlägigen Problemlagen zwischen Alkoholismus und psychischer wie körperlicher Gewalt auf den ersten Blick an Dramen des Naturalismus erinnern, verfliegt diese Assoziation jedoch rasch. Zum einen, weil Klamauk und Wortwitz die deprimierende Sozialstudie immer wieder ins Komödiantische kippen lassen. Zum anderen, weil das Heraustreten der Figuren aus dem Geschehen und das direkte Sprechen zum Publikum die Illusion wiederholt brechen.
AIDS, sexueller Missbrauch in Familie und Kirche, Suizid, Homosexualität, Alkoholismus und Tablettensucht, Entfremdung, Upperclass-Standesdünkel und Erzählungen von postnataler Depression: Wer denkt, Silvers Kammerspiel werde damit ein wenig viel aufgebürdet, irrt nicht unbedingt. Gerade weil alle Konflikte der Familie zwischen den Stehsätzen „Ich will noch mal von vorn anfangen“ (Mutter) und „Ich will meine Ruhe“ (Vater) stets explizit und überdeutlich vorgeführt werden, stellt sich kaum ernsthafte Neugier für das „Aussterben“ der Duncans ein. Man fragt sich mitunter, ob nicht jene Theaterstücke, die Spannungen und Risse in sozialen Systemen erst nach und nach sichtbar machen, mehr andeuten als vorführen, sehr viel anregender sind als dieses recht plakative Zeigetheater.
Die Schauspieler sind redlich bemüht (gerade Tim Oberließen als Todd überzeugt), den seltsam blassen Charakteren Tiefe und darstellerische Kraft zu verleihen. Aber das Wohnzimmer der Duncans (Ausstattung Manuela Weilguni) wird zu einem familiären Schlachtfeld mit so vielen Scharmützeln, dass das große Bild aus dem Fokus gerät. Die im Stück angelegten harten Wechsel zwischen leichter Komödie und großer dramatischer Geste erzeugen zwar überraschende bis bedrückende Effekte, die Inszenierung dieses umfassenden Sittenbilds einer neurotisch-egoistischen Gesellschaft scheitert jedoch weitgehend an Überfrachtung und Motivierungsdefiziten.
„Pterodactylus“ wird so zu einer schmerzhaften Archäologie familiärer Abgründe, die sich wohl das eine oder andere große gesellschaftliche (Tabu-)Thema zu viel vornimmt. Von seiner Anlage zwar ein Kammerspiel im besten Sinne des Wortes, will das Stück am Beispiel einer überdurchschnittlich verkommenen Upper-Class-Familie eine solche Fülle an Konflikten durchspielen, dass am Ende das schale Gefühl der Übertreibung bleibt. Am Ende zwar langer Applaus für das Ensemble, zeitgenössische Stücke hat das Landestheater aber definitiv schon schlüssigere gesehen.