Von der Leichtigkeit des Fallens
WINTERFEST / GRAVITY & OTHER MYTHS
09/12/16 Könnte es sein, dass die Schwerkraft tatsächlich nicht mehr ist als eine unbewiesene Behauptung? Ein durch nichts zu bestätigender Mythos? Den Gedanken legt die australische Artistengruppe „Gravity & Other Myths“ mit ihrer Namenswahl jedenfalls nahe.
Von Reinhard Kriechbaum
Nicht nur dadurch. Wenn man den fünf Männern und zwei jungen Damen zusieht, dann wird man bald mit ihnen die Überzeugung teilen: Dass Menschen senkrecht nach unten fallen, wenn es an Standfläche fehlt, ist nur eine von mehreren Möglichkeiten. Mit sagenhafter Leichtigkeit des Seins kann es auch deutlich nach oben gehen. Und genau deshalb spielt sich das, wofür diese Gruppe steht – schlichtere Gemüter würden von Bodenturnen sprechen – beileibe nicht nur in Bodennähe ab.
Aber von Anfang an: Da fällt man um, zuerst eine der Damen, aber bald purzeln alle querfeldein, und immer ist irgendwer da, der die Partnerin, den Partner im letzten Moment auffängt. Das funktioniert auch auf dem Menschenturm ganz oben.
Die Nummern von „Gravity & Other Myths“ sind jeweils von einer leitmotivischen Grundbewegung heraus entwickelt, einer gymnastischen Übung, einem Kunststück. Das kann ein Handstand sein, ein Kopfstand, ein Salto, und ganz am Ende der 65 Minuten, in denen die Zuschauer fast mehr außer Atem gekommen scheinen als die Artisten, werden Menschen verschaukelt, neben-, durch- und übereinander. Die simplen Grundbewegungen werden geradezu unglaublich erfindungsreich choreographiert, verdichten sich, nehmen an Tempo und Kühnheit zu.
„A Simple Space“ heißt die Produktion, die nun das Winterfest gehörig aufpeppt, und es ist ja wirklich nichts anderes als eine nicht wirklich große quadratische Mattenfläche, auf der es schon eng werden kann, wenn alle sieben zugleich tollkühn bewegte Menschentrauben bilden: Es geht im Wortsinn drunter und drüber. Der Space ist so simple, dass die Artisten selbst die Scheinwerfer an- und ausklipsen.
Natürlich geht es nicht nur turbulent zu. Einmal liegen drei Leute übereinander. Sie beginnen sich aufzurichten, und man merkt gleich ihren Ehrgeiz. Nur dem Untersten wird Bodenberührung zugestanden, die anderen achten sorgsam darauf, nie den Körperkontakt zu dieser Human-Basis zu verlieren. Poetisch-luftig ist dieser Pas de trois choreographiert und man scheint tatsächlich beim Aufrichten dieser Menschenskulptur quasi aus sich heraus der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen.
Das verlangt Konzentration, Technik, Kraft – aber von all der Anstrengung merkt man fast nichts, weil die jungen Leute all das mit einem Lächeln machen. Es wirkt unbeschwert! Sie haben wohl selbst die allergrößte Freude, wenn ihn bei ihrem Frontalangriff auf die Schwerkraft wieder ein Etappensieg gelungen ist.
Zum Lachen gibt es auch nicht wenig, etwa in der Schnurspring-Nummer. Wer sich verheddert, muss ein Kleidungsstück rausrücken. Bald steht einer sogar ohne Unterhose da. Wie in dieser misslichen Situation noch hüpfen, ohne Anstoß zu erregen? Keine Sorge, es findet sich ein Ausweg. Für die Balance-Nummer einer jungen Dame werden Leute aus dem Publikum auf die Bühne geholt, und die Zuschauer dürfen später Gummibälle auf die Artisten im Handstand werfen. Zu einer kleinen Atempause verhilft der Perkussionist, der seinen Körper in ein sagenhaft fein klingendes Musikinstrument verwandelt. Zum Lachen und Staunen für Leute, die sich weder aufs Eine noch aufs Andere verstehen: der junge Mann, der im Kopfstand einen Rubik-Würfel zurecht dreht.
Auch das Burleske findet also seinen Platz im „Simple Space“. Man erlebt gleichsam das Kerngeschäft aller zirzensischen Kunst. Und man ist ganz wunderbar nah dran, nicht nur wenn man in der ersten Reihe sitzt.