Mit „Ohne“ vom Tanz des 20. Jahrhunderts
SOMMERSZENE / TINO SEHGAL
02/07/14 Willkürlich und provokant muss zeitgenössischer Tanz sein, vergänglich und flüchtig die Rolle des Künstlers? Vierzehn Jahre nach „(ohne Titel) 2000“ erzählt Tino Sehgal (ohne Kleidung) in der Rainberghalle in seinem Solo „Das 20. Jahrhundert“ vom bewegten Museum des Tanzes.
Von Oliwia Blender
Man könnte es folgendermaßen beschreiben: Ein Mann, 50 Minuten splitterfasernackt. Kontrastierende Bewegungsabfolgen, bebendes Fleisch, schwingende Muskeln, Schweiß und lauter Atem. Und zum Schluss uriniert der Künstler mit folgender Aussage „Je suis fontaine“ auf die Bühne in Richtung Publikum… - keine Überraschung, moderne Kunst stellvertretend für die moderne Gesellschaft eben.
Oder man holt sich Hilfe bei (beispielsweise) dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann, der die Kunstwelt aus seiner soziologischen Anschauung heraus zu erklären versucht. Dann erahnt man den performativen Widerspruch. Die Kunst reflektiert ihre eigene Autonomie und Zeit spielt dabei eine große Rolle: Die Vergangenheit – der individuelle Arbeitsverlauf der letzten 14 Jahre, die Gegenwart – der flüchtige Quer- bzw. Anschnitt der Tanzgeschichte und Stilzitate sowie die unaufhaltsame Zukunft – Tino Sehgal gewährt eine Prognose vom Tanz im Jahre 2017.
Wahlweise nennt Sehgal seine Darbietung auch „Twenty Minutes for the Twentieth Century“. Er irritiert, indem er anspricht, das Publikum auf Englisch, Deutsch und Brocken auf Französisch. Zwischen all den virtuosen Pirouetten und Sprüngen, bekannten Ballettelementen bis hin zu (mehr oder weniger) alltäglichen Bewegungen und körperlichen Gefühlsdarstellungen erzählt er von gestischen Memory Übungen: „When you’re moving you can’t be thinking and when you’re thinking you can’t be moving so she was interested in putting the two things together“.
Mag sein, dass man die Stilzitate nicht entschlüsseln kann, wenn der einschlägige Tanzhintergrund fehlt, dafür kann man eine Stunde lang beobachten, wie ein nackter Körper beim Tanzen aussieht. Laut Luhmann gelangt man nur zum erlösenden Verständnis, indem man „die Beobachter beobachtet“ und man wird staunen, wie stark ein nackter Tänzer ein Publikum verunsichern kann. Alternativ kann man sich selbst die Frage stellen, wie man wohl sonst das Medium Tanz im Museum ausstellen könnte? Tino Sehgal jedenfalls bietet dazu mutig seinen eigenen Körper an. Aber fotografieren lässt er sich nicht. Man muss ihn sich schon live nschauen bei seinem performativen Tun.