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Weihrauchfass und Schleuderbrett

WINTERFEST / TABARNAK

29/11/19 Ein Spitzbogenfenster entsteht aus Menschenkörpern. Eine gekappte Kirchturmspitze  schraubt sich wirbelnd gen Himmel. Weihrauchfässer werden über den Köpfen geschwungen. Tanzende Derwische in weit ausschwingenden Häkelkleidern beruhigen die Szene, bevor klar wird, dass „Himmelfahrt“ mittels Russischer Schaukel eine ganz neue Bedeutung bekommt.

Von Heidemarie Klabacher

Was andere Truppen auf dem Boden oder an Zelt-Säulen befestigen, nehmen sie auf ihre Schultern. Akrobatik auf der Vertikal-Stange ist ein Klassiker, der vom Cirque Alfonse eine neue Dimension bekommt: Der starke Mann der Truppe positioniert senkrecht die mehrere Meter lange Stange irgendwo unterhalb seines Schlüsselbeins – und schon laufen behände oder huschen schwerelos die leichteren Kollegen ans obere Ende des „Chinesischen Masts“ um sich fahnengleich ins Nichts zu hängen. Einfach atemberaubend.

Der mobile Schwebebalken, der hochelastische Russische Barren, wird von zwei Artisten geschultert, während die anderen darauf und im Luftraum darüber Balance- und Sprung-Kunststücke losgelöst von Physik und Schwerkraft hinlegen.

Die Russische Schaukel wird kräftig ins Schwingen gebracht und ist, das Treffen des richtigen Augenblicks vorausgesetzt, eine ideale Absprungbasis in für vielfach in den Zirkushimmel gedrehte Salti und Schrauben. Bis hinauf ans obere Quer-Gestänge der Zeltkonsruktion (wo eigentlich die Scheinwerfer daheim sind) hat es aber in 18 Jahren Winterfest noch nie einen Artisten geschleudert. Dies war heuer, bei der Premiere von Tabarnak des kanadischen Cirque Alfonse am Donnerstag (29.11.) im Theaterzelt, erstmalig der Fall. Von wegen Fall: Es ist kein Problem, auf sieben acht Metern im freien Fall eine gute Figur zu machen und unten eine sichere Landung hinzulegen.

Welch mitreißende Produktion! Man hatte ja leise befürchtet, ausgerechnet Kirchenkritik habe im Zirkus Einzug gehalten, hieß es doch im Vorfeld, mit Tabarnak feiere der Cirque Alfonse eine „Messe“. Blasphemie will man im Zirkus ja genausowenig haben, wie Gendergerechtigkeit, denn immer werden in der Manege die Stärkeren die Leichtern auf Schultern und Händen tragen. Genau betrachtet hat freilich das Phänomen „Zirkus“ mit Aplauss und Zirkusdirektor und Spannungs-Getrommel seine rituellen Züge (wie jeder Konzertbesuch mit Sekt und Lachsbrötchen in der Pause auch).

Tatsächlich weist Tabarnak, die Eröffnung beim Winterfest war übrigens die 200. Aufführung des Stücks, da und dort rituelle Züge auf: Das zentrale spitzbogige Buntglasfenster markiert den Raum eindeutig als „sakral“ und durchaus eindeutig auch als „katholisch-sakral“. Aber das war's auch schon. Eine gewisse Feierlichkeit und Stilisiertheit einzelner Bewegungsfolgen mochte liturgische Züge haben, ihnen wird aber jeweils im nächsten Moment von und mit artistischen Funkenflügen heimgeleuchtet. Nicht einmal ein seltsames (und seltsamerweise auch gar nicht witziges) Taufritual vermochte zu befremden.

Insider freuen sich, wenn in der grandiosen - von der Schlagzeugerin gnadenlos voran getriebenen - Livemusik mit vielen Volkalparts Text-Fetzen aus der Präfation oder Schnipsel aus einer Choralmesse erkennbar werden. Latein, oder das, was Franko-Kanadier für Latein halten, ist die gesungene Sprache. „Vater unser“ kommt auch gelegentlich vor, aber in vielen Zungen... Dieser eigenwillige und virtuos gespielte Live-Soundtrack macht die Atmosphäre da und dort feierlich und eben ganz besonders schräg.

Geradezu Kreuzigungs-Assoziatioen weckte eine Strapatennumer (das sind die langen Bänder, die sich die Künstler um die Handgelenke wickeln, sich in die Höhe ziehen lassen daran Vertikalseilnummern machen), in der der Künstler mit ausgestreckten Armen wie im Nichts schwebte. Aber es wurde auch ganz lustig Rollschuh gefahren.

Lieblingsnummer: Weihrauchfass-Schwenken. Zwei runde Schalen jeweils am Ende einer langen Kette werden von den Artisten geschwenkt, wie Weihrauch-Gefäße vom Zerimoniär in einem levitierten Hochamt. Aber dann ist die Ähnlichkeit auch schon vorüber und es handelt sich auch nicht um Weihrauchfässer, sondern um ein klassisches Jonglage-Gerät, den Meteor. Kugeln, Messer oder auch kleine Feuerchen werden an einer Kette immer schneller geschwenkt und schließlich scheinbar waagrecht wie an einer Stange über den Köpfen gedreht. Klassische Meteore sind Schalen mit Wasser oder Sand drin. Hier was es Wasser. Aber der „sakrale“ Kontext von Tabarnak ließ den Betrachter Weihrauchfässer sehen und den kostbaren Harzduft schier riechen...

Das schräge Gesamtkonzept, die Virtuosität der Artistinnen und Artisten und unzählige schrullige Details – Häkeln etwa – machen diese Winterfestproduktion zum erklärten Liebling seit vielen Jahren. Häkeln? Während das Publikum auf seine Plätze strömt, sind die Künstler schon alle auf der Bühne und häkeln. Die Haube, die fertig ist, wenn alle sitzen, kriegt ein Bub in der ersten Reihe (man sieht ihn dann noch beim Hinausgehen mit der Trophäe auf dem Kopf). Die schweren geringelten Häkelgewänder der Tanzenden Derwische (die Produktion ist multi-religös) schwingen und rotieren würdig.

Das Winterfest im Volksgarten - bis 6. Jänner -  www.winterfest.at 
Bilder: Winterfest / Erika Mayer
Zum Interview mit dem Cirque Alfonse
Religions-Akrobatik. Glaubens-Salto

 

 

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