Er der Poet, sie die Poesie
LANDESTHEATER / HAUS FÜR MOZART / LA BOHÈME
27/02/17 „In dir erkenne ich den Traum, den ich immer träumen wollte“, singt Rodolfo. Freilich haben Träume die unangenehme Eigenschaft, sich in nichts aufgelöst zu haben, wenn man erst mal aufgewacht ist. Verlöscht wie das Feuer in Mimis Zigarette. Puccinis „La Bohème“ in einer Inszenierung von Andreas Gergen im Haus für Mozart.
Von Reinhard Kriechbaum
In Puccinis Zeit war die scheiternde Liebe unter Traumtänzern ein denkbar starker Kontrast zum Korsett bürgerlicher Denkungsart. Im Paarship-Zeitalter ist die Überforderung in Beziehungssachen gelebter, also überprüfbarer Alltag. Also die Bestätigung der „Bohème“: Man trennt sich, wenn's brenzlig wird in der Beziehung, so wie eben Rodolfo sich feig davon gemacht hat angesichts des letalen Hustens seiner Mimi. Andreas Gergen zeigt, dass es nur ganz wenig Verrenkung braucht, um diese Oper ins unmittelbare Heute zu übersetzen, sofern man die Hebel an den wirklich entscheidenden Stellen ansetzt.
Harte Beats, dann erst geht es los mit Puccinis Musik. Junge Leute lauschen wie ferngesteuert ihrer je eigenen Musik aus dem Kopfhörer, in der Gruppe und doch hoffnungslos allein zwischen die Bierkisten und auf sich gestellt – das Motiv wird in allen vier Akten durchgespielt. Nie und nimmer kann es gut gehen zwischen Mimi und Rodolfo, viel zu tief sind die beiden eingetaucht in ihre jeweiligen solipsistischen Utopien von Zweisamkeit. „Ich der Poet, sie die Poesie“, so stellt Rodolfo die junge Frau den Freunden vor, sie, die Lilien und Rosen freuen, „die von der Liebe sprechen und vom Frühling, die mir von Träumen sprechen und von Chimären“. Paartherapeuten würden letztlich ausgebliebene „Beziehungsarbeit“ diagnostizieren.
Das ereignet sich im Haus für Mozart in einem gar wundersamen bühnenbildnerischen Ambiente von fettFilm (Momme Hinrichs, Torge Møller), einer unbestimmten architektonischen Mixtur aus Innen und Außen, die (wie in rascher Film-Überblendung) geeignet ist, sich spontan zu weiten für die lebhaften Volksszenen im Quartier Latin, um gleich wieder ganz klein und intim sich zusammen zu ziehen. Die Video-Einblendungen stehen für Utopien und Träume, für surreale Erwartungen an einen Partner mit einer fatalen Eigenschaft: Er ist real. Das ist der Konstruktionsfehler dieser (und vieler heutigen) Paar-Aufstellungen. Der Schnee landet letztlich in der Glaskugel, wird wie andere Bild-Metaphern künstliches Versatzstück wie die Liebe selbst.
Braucht es in diesem reizvollen Setting erst den Beweis, dass Puccinis Musik zeitlos ist? Natürlich nicht. Mirga Gražinytė-Tyla steigt im überakustischen Raum mutig ein in die Fieberkurven der Partitur. Überhitzt vor allem als willige Mitträgerin der Tenor-Attacken von Luciano Ganci, eines Rodolfo, der mit schier beängstigender Energie von Hochton zu Hochton steuert und dazwischen die sinnliche Kantilene fast vergessen macht: Ein Stimm-Protzer der Sonderklasse.
Shelley Jackson als Mimi ist von ganz anderem Holz geschnitzt, sie kann sich auf deutlich mehr Zurückhaltung im Orchestergraben verlassen und steht in der differenzierten Gestaltung weit über ihrem Partner, der so zum echten „Gegenspieler“ wird (was musikalisch tendenziös, aber der Inszenierung durchaus dienlich ist). Es sind vor allem die Mimi-Szenen, in denen auch das Filigran der Instrumentation gut heraus kommt. An Durchhörbarkeit mangelt es im Haus für Mozart aber auch im Fortissimo nicht.
Die Sänger-Gästeschar wirkt handverlesen und die eigenen Ensemblemitglieder brauchen sich auch nicht zu verstecken. David Pershall ist ein sehr differenzierter, in der Höhe weicher Marcello, der gegenüber der gelöst-freien Musetta (Hailey Clark) doppelt verletzlich wirkt. Die Regie arbeitet dieses Paar sehr aufmerksam als quasi-realistisches Gegenmodell zur Traumtänzer-Liebe zwischen Mimi und Rodolfo heraus. Raimundas Juzuitis wird im Mantellied gar wunderbar getragen von der Dirigentin: So klingt Resignation, auch im Orchester. Ein Ensemble-Kabinettstück ist die Tanzszene der vier Freunde (mit Elliott Carlton Hines als Schaunard) im vierten Akt, wie überhaupt diese „Bohème“ auch ob ihrer akkurat gleichgewichtigen Ensembles besticht, in die sich Franz Supper als Parpignol, Einar Th. Gudmundsson als Benoit und – als Leihgabe aus dem Schauspielensemble – Axel Meinhardt als Alcindoro eben so gut einfügen wie auch der Chor und der Kinderchor.
Wie sie alle da stehen am Ende, nicht zu nahe bei Mimi: So peinlich berührt kann man sein, wenn das Leben selbst plötzlich da ist, in Gestalt des Ablebens.