Im Feuermeer der Schmerzen
REST DER WELT / ERL / EL JUEZ
19/08/14 Hat es bei den Tiroler Festspielen in Erl je die Uraufführung einer Oper gegeben? José Carreras investierte seine ganze Grandezza in die eher langwierige Oper „El Juez“ von Christian Kolonovits.
Von Hans Gärtner
Für Zeitgenössisches zeigte sich Gustav Kuhn, Gründer und Motor des immer stärker ins globale Festival-Geschehen rückenden Erl mit dem spektakulärsten modernen Festspielhaus nördlich der Alpen seit jeher aufgeschlossen. Nun holte er, der sich dabei ganz im Hintergrund bewegte, ein Ereignis, das aufhorchen ließ, ins Dorf an der südbayrischen Grenze. Im April in Bilbao vorgeprobt und dann einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert, gab es im August die Möglichkeit, dem jüngsten Werk des als musikalischer Tausendsassa bekannten Burgenländers Christian Kolonovits zu begegnen: der Oper „El Juez“ nach dem Libretto von Angelika Messner.
Messners Text, der allein schon die Emotionen hochkochen lässt, übertrug Adan Kovacsics ins Spanische. Die Story ist spanisch motiviert. Sie spielt im totalitären Franco-Regime und hat ein böses Kapitel der Kirchen- wie der politischen Geschichte aufzuarbeiten: die brutale Verschleppung unschuldiger Kinder. An ihr haben sich viele Gewaltinhaber schuldig gemacht, neben dem Geheimdienstchef eines „verfluchten Systems“ – kolossal präsent gemacht durch die bärenstarke Power des Bassisten Carlo Colombara – die egoistische Äbtissin (Anna Ibarra) eines nicht näher verorteten spanischen Klosters. Ihre vereitelte leibliche Mutterrolle substituierte sie durch die fatale Liebe zu einem kleinen Buben, den sie seiner Mutter entriss, um selbst Mutter für ein Kind zu sein.
Um diesen Jungen, der im Stück schon erwachsen, in der Regie Emilio Sagis aber allzu alt (und unbegreiflicher Weise Vater einer 4-jährigen Tochter) ist, geht es hier. Um den Richter Federico Garcia. Ihn verkörpert Alt-Weltstar José Carreras. In Kolonovits` Oper, die zwischen den Schmonzetten-haften Rührseligkeiten eines Musicals und einem schillernden Puccini/Kongold-Verschnitt chargiert, hat Carreras kein leichtes Spiel. Er muss den ganzen Abend im schwarzen Kurz-Mantel ein tristes Gesicht machen, muss seiner Identität, solange die Handlung am Kochen ist, nachspüren, bis er die volle Wahrheit seines eigenen und des Schicksals seines Bruders, des die Kindesverschleppung medial publizierenden Liedermachers Alberto (José Luis Sola) erfahren kann. Im Verlauf der vier viel zu langen Akte wird klar: Carreras gibt der Realisierung eines schwer goutierbaren zeitgenössischen Musiktheater-Werkes seine ganze, ihm noch immer zur Verfügung stehende Grandezza.
Man wird freilich als Zuschauer zweieinhalb Stunden lang nicht froh. Im bedrückend-finsteren Ambiente (Daniel Bianco, Bühne, Pepa Ojanguren, Kostüme) peitscht Maestro David Gimènez am Pult des fabelhaften Erler Festspiel-Orchesters die Emotionen ständig hoch. Im Feuermeer der Schmerzen soll jeder baden; denn keiner ist an den Miseren der zur lauten Sprache gebrachten filmmusikalisch effektvoll arrangierten Klangwogen Christian Kolonovits` schuldlos. Die hochgepeitschten Emotionen können nur in der Katastrophe enden: Alberto liegt erschossen am Boden. Untröstlich wirft sich seine Geliebte (brillant: Sabina Puèrtolas) über ihn. Starr vor Schrecken, dem Leidensdruck kaum gewachsen, steht das aufgewiegelte Volk (Coro Rossini). Ob sich die Erde je ohne Mord und Tod, Verlust und Verschulden drehen wird? Die vor allem die als gewissenlos angeklagte katholische Kirche arg beutelnde Oper will die Hoffnung auf eine Menschheit nicht aufgeben, der es um Wahrheit statt Lüge, um Aufdeckung statt Vertuschung von Verbrechen am Menschen geht.