Wie ein großes Familienfest
REST DER WELT / LOCKENHAUS
08/07/13 Nicolas Altstaedt und Gidon Kremer sind zwei Musiker aus zwei Generationen, die etwas Wichtiges verbindet: Lockenhaus. Altstaedt verantwortet heuer zum zweiten Mal das Programm dieses Kammermusikfestival. Ins Leben gerufen hatte es 1981 Gidon Kremer, der ihm bis heute treu geblieben ist. Altstaedt und sein Vorgänger haben nur die Rollen getauscht, vom Gast zum Gastgeber und umgekehrt.
Von Oliver Schneider
An der Struktur des Festivals hat Altstaedt nicht gerüttelt: In Lockenhaus musizieren Freunde – ohne Gage – für zehn Tage miteinander und laden ein offenes Publikum zum Zuhören ein. Das Zuckerl ist freilich, dass jeder das spielen darf, was er möchte. Was sich dann im Endeffekt doch unter das Festivalmotto subsumieren lässt. Heuer lautet es „Schuld und Sühne“ als Ausdruck für den künstlerischen Schaffensprozess beeinflusst durch Reue und Überwindung.
Ein Zentrum des ersten Wochenendes bildeten dabei Madrigale aus Carlo Gesualdos Madrigalbüchern, in den Matineen präzise artikuliert von den Neuen Vocalsolisten und am Sonntag unter anderem kombiniert mit neuen Madrigalen von Gerald Resch als Uraufführung. Schlicht Phänomenales leisteten die Gäste aus Stuttgart am Freitagabend, als sie in Claude Viviers „Love Songs“ singend und sprechend den Geheimnissen der Liebe nachspürten. Das hat trotz großen Applauses nicht dem gesamten Publikum gefallen, wie die Pausengespräche und jene am nächsten Morgen zeigten.
Doch eines darf man dem Lockenhauser Publikum attestieren: Es ist mehrheitlich bereit, sich auf anspruchsvolle Programme einzulassen, die zum Beispiel den Bogen von Schostakowitschs technisch höchst anspruchsvolle Sonate für Violine und Klavier in G-Dur über Nadir Vassena und Claude Vivier zum vertrauteren ersten Klaviertrio von Schumann spannen.
Esther Hoppe, Nicolas Altstaedt und Alexander Lonquich hatten es mit dem Schumann-Trio gleichwohl nicht leicht, wobei sich die Wahl des Bösendorfers mit seinem runden, fülligen Klang für den Burgkonzertsaal als ideal erwies. Einen nachhaltigen Eindruck hinterliess das Scherzo, in dem sich die drei Musiker beim Galopp-Thema gegenseitig regelrecht anstachelten.
Die Konzerte finden abwechselnd auf der der Burg und in der Pfarrkirche statt. In der letzteren durfte man am Freitag Gidon Kremer mit Miecyslaw Weinbergs dritter Solosonate erleben. Er unterlegte dem Werk eine sehr persönliche, strukturierte Deutung aus der Biographie Weinbergs und lotete im letzten Satz die Facetten des Jenseits aus. Auch in der Pfarrkirche ließ die junge chinesische Pianistin Sa Chen mit Liszts h-moll Ballade aufhorchen, deren Stimmungen sie mit Tiefgang und erstaunlicher Kraft nachging.
Vor allem Betroffenheit löste das Gesprächskonzert „Theresienstadt: Musik war Hoffnung“ aus. Nicolas Dautricourt, Mathieu Herzog und Nicolas Altstaedt spielten in erster Linie Werke von Gideon Klein, Erwin Schulhoff und Hans Krása, für die die „Stadt als ob“ Zwischenstation zum Tod war, während Hermann Beil das Grauen in einer klugen Zusammenstellung aus zum grossen Teil Originaltexten wachrief. Warum es zwei Stunden danach noch ein – zugegeben interessantes – Spätkonzert in der nur mit Kerzen erleuchteten Pfarrkirche mit Schönbergs Verklärter Nacht und Clemens Gadenstätters „Weh“ mit den Vocalsolisten aus Stuttgart geben musste, ist eine andere Frage.
Auch Jubiläen werden in Lockenhaus gefeiert: Wagner für einmal nur indirekt mit Liszts „La lugubre Gondola“. Liszt komponierte das Werk für den Transport von Wagners Leichnam vom Palazzo Vendramin in Venedig zur Friedhofsinsel San Michele. Es jähren sich auch Gesualdos 400. Todestag und Benjamin Brittens 100. Geburtstag. Claudio Bohórquez trug Brittens erste Cellosuite sehr sensibel vor. Wie sich Renaissance-Musik und Zeitgenössisches befruchten, zeigte das Verschachteln von Tobias PM Schneids uraufgeführten Five Portraits – Capricchos for violin solo mit Madrigalen von Gesualdo.
Die Konzerttage in Lockenhaus sind lang – nicht nur für die Künstler, die oft nach den Konzerten in der Nacht noch proben. Den Besucher zwingen sie in eine Schule des Hörens, zu einem musikalischen In-sich-Gehen. Lockenhaus ist wie ein großes Familienfest, zu dessen Gelingen jeder nach seinem Vermögen einen Beitrag leistet und an dem oberflächlicher Festspielglamour keinen Platz hat.