Der letzte Liebesbeweis
REST DER WELT / BURGTHEATER / LILIOM
09/04/13 Wie Barbara Frey, die Franz Molnars „Liliom“ den Lokalkolorit weitgehend genommen hat, die Frauen dasitzen und dastehen lässt! Die Einsilbigkeit, die Sprachlosigkeit (und damit Wehrlosigkeit) in dürrer Gestalt. Eingezogener Kopf, meist hängende Schultern.
Von Reinhard Kriechbaum
„Du elender, roher, niederträchtiger, lieber Mensch …“ Zum ersten Mal spricht Julie, die bisher kaum mehr als „ja“ oder „nein“, bestenfalls einfache kurze Sätze gesagt hat. Doch da liegt Liliom schon leblos da, mit dem Messer, das er sich nach dem missglückten Überfall auf den Geldboten selbst ins Herz gerammt hat. Liebevoll zieht sie dem Toten das Hemd hoch und sich selbst die Bluse aus. Mit nacktem Busen schmiegt Julie sich an Lilioms Rücken. An den Rücken wohlgemerkt. Auch als Toter bleibt Liliom abgewandt, emotional ferne, irgendwie ungreifbar. Als Mensch Fiktion wie das Sofa, auf dem auch diese Szene spielt.
Ja, das Sofa! Es steht oft da, im Vordergrund der (Dreh-)Bühne, einer Prater-Dekoration mit vielen, vielen Glühbirnen. Liliom, der das Ringelspiel der Frau Muskat und die Herzen der jungen weiblichen Fahrgäste in Fahrt hält, nimmt selten drauf Platz. Wenn doch, dann sitzt er breit da, einnehmend, eingenommen habend – ein mächtiger Fremd-Körper auf dem zierlichen bürgerlichen Sitzmöbel.
Die Frauen, wenn die am Sofa hocken: Sie wirken wie auf einem Draht kurz gelandete Vögel, wie auf Zwischenstation. So wie Julie (Katharina Lorenz) und ihre einfältige Freundin Marie (Mavie Hörbiger) sehen keine Gewinnerinnen vergangener oder künftiger Liebschaften aus. Vierschrötig dagegen Nicholas Ofczarek als Liliom, ein Naturereignis in seiner Körperhaftigkeit, und doch so ur-menschlich in seinen vielen unbeholfenen Blicken und Gesten. Die Unsicherheit, die augenblicklich in Brutalität kippt, die Sehnsucht nach Zuwendung, die sich doch nur in verzweifelten verbalen und bracchialen Rundumschlägen Bahn bricht – auf dieser Klaviatur des Liliom’schen Un-Charakters spielt Ofczarek virtuos: immer hochfahrend, aufbrausend, drohend – und zugleich hart am Rande zur Depression, zur kindlichen Hilflosigkeit, aus der ihm keiner hilft.
Im Programmheft ist die scharfsinnige Analyse „Friedhof der Wörter“ wieder abgedruckt, die Thomas Assheuer für die Thalheimer-Inszenierung 2000 im Thalia-Theater geschrieben hat. Spätestens seither ist ja ein anderer Zugang zu „Liliom“ zumindest statthaft, nicht nur jener über den jeweils mehr oder weniger „charmanten“ Lokalkolorit. Auch Barbara Frey arbeitet heraus, wie da jederzeit mit Wörtern zugestochen wird. Mit vermeintlich unüberlegten Sätzen, die doch aus der Seele kommen und damit umso sicherer ins Fleisch des Gegenübers treffen. Jede dahergesagte Formulierung ein sicherer Blattschuss.
Im Burgtheater redet man schon lange nicht mehr genuin Wienerisch. Das nützt Barbara Frey für ihren textanalytischen Zugang. Ofczarek hat als einziger wirklich den Prater-Strizzi-Ton drauf, stürzt damit wie aus einer anderen Welt hinein in ein präzis gesetztes, für dieses „altösterreichische“ Stück fast ein wenig zu schneidige Hochdeutsch. Der junge Daniel Sträßer spielt den Gauner Ficsur glatt und unaufdringlich. Die tapsige Marie der Mavie Hörbiger wird es mit ihrem korrekten Wolf (Michael Masula) wohl zu einigermaßen angepasstem Leben bringen.
Regionaler Zungenschlag wird eher marginal eingesetzt. Wirklich im Wiener Prater zuhause ist nur Barbara Petritsch in der Rolle der Frau Muskat (der Karusellbesitzerin, die vehement um ihren Ex-Liebhaber Liliom kämpft). Nett mit Lokalkolorit eingefärbt ist auch die Szene mit den beiden Himmels-Polizisten, die Liliom abholen ins Jenseits. Dieser Himmel! „WC“ steht hinten auf dem erhöhten Container, aber drüber leuchtet dann eben ein Neon-Schriftzug „Jenseits“, als wäre das auch nur eine Bude im Tingeltangel des (halt)losen Lebens. Drin hockt Peter Mati? als Konzipist Gottes, mit altmodischem Transistorradio am Schreibtisch, den er natürlich abdreht, wenn das Bakelit-Telefon läutet oder Liliom ihm gegenübersitzt. So ein korrekter Beamter weiß, was sich gehört. Die Himmlischen tragen übrigens Beige.
Lilioms Rückkehr auf die Erde: Rührend, wie er alles ganz richtig machen will, wie er seine Stimme dämpft, wie er quasi immer einen Finger auf den Temperamentskessel hält, wo es immer noch und wieder mit Überdruck brodelt. Der Klaps auf die Hand der Tochter (Jasna Fritzi Bauer) – harmlos für sie, endgültig der Ruin für Liliom, der sich mit bedrückender Langsamkeit davon macht. Ja, es gibt Schläge, die überhaupt nicht weh tun, das erklärt Julie dem Kind. War sie Opfer eines Seelenwüstlings, ist ihr ein Panzer gewachsen im Lauf der Zeit? Nein, Katharina Lorenz macht in dieser Aufführung immer gerade das Dünnhäutige sichtbar, einen leisen Anflug von Optimismus und Geradlinigkeit. Julie ist ja doch nicht zermalmt worden von Lilioms Grobschlächtigkeit, hat irgendwie das Fähnlein des Zutrauens hochgehalten. Wenn auch nur, wenn gerade keiner hingeschaut hat. Und am allerwenigsten Liliom. Der bekommt die endgültige körperliche Zuwendung am Sofa. Posthum.