Die Kinder „erden“ die Götter
WIEN / STAATSOPER / ALCESTE
14/11/12 Nach Glucks „Iphigénie en Aulide“ letzte Woche im Theater an der Wien doppelte die Staatsoper am Montag mit einer Neuinszenierung der „Alceste“ nach, und zwar erstmals in der französischen Fassung. Jubel für die Sänger, Chor und Orchester mit Ivor Bolton am Pult.
Von Oliver Schneider
Die Werke Christoph Willibald Glucks, des großen Reformers zwischen Barock und Wiener Klassik, finden nur selten den Weg auf die Bühne des Hauses am Ring. „Alceste“, 1767 in Wien in italienischer Sprache uraufgeführt, kam bisher auf drei Produktionen in deutscher Sprache und verschwand jeweils nach wenigen Vorstellungen wieder. Die Neuproduktion, die am Montag (12.11.) ihre Premiere feierte, war also mehr als überfällig. Da war es unerheblich, dass es sich „nur“ um eine Koproduktion handelt, die bereits 2010 in Aix-en-Provence und in Kopenhagen zu sehen war.
In Glucks „Alceste“ steht (anders als bei Euripides) allein die Titelfigur im Zentrum: Aus Liebe opfert sich Alceste den Göttern, damit ihr kranker Mann Admète, König von Thessalien, weiterleben kann. Er will das Opfer nicht annehmen und steigt mit Herakles in die Unterwelt herab, um seine Gattin zu retten. Im Endeffekt ist es dann Apollo, der das Paar als Deus ex Machina wieder zusammenführt.
Christof Loy und sein Regieteam (Bühne: Dirk Becker, Kostüme: Ursula Renzenbrink, Choreografie: Thomas Wilhelm) haben sich von Ingmar Bergmans Film „Fanny und Alexander“ aus dem Jahr 1982 inspirieren lassen, um das Hohelied der Liebe näher an die heutige Zeit zu führen. Gespielt wird in zwei streng-klassizistischen, durch eine Schiebetür voneinander abtrennbaren Räumen um die vorletzte Jahrhundertwende.
Hier leben Alceste und Admète mit ihren Kindern, nicht nur mit zwei wie im Original, sondern mit einer ganzen Schar. Aus deren Sicht erzählt Loy einen Großteil der Geschichte, womit er der tragenden Rolle des Chors als Protagonist in der Reformoper Rechnung trägt. Gleichzeitig gelingt Loy das Verorten im historischen Kontext, weil das Bild des Kindes auch für das Volk im aufgeklärten Absolutismus steht. Die Kinder spielen fangen oder verkleiden sich als Götter oder sonstige mythologische Gestalten. So wird das Übermenschliche in der Oper auf den Boden des Alltäglichen heruntergeholt und geerdet.
Als der geheilte Admète vom Entschluss seiner Frau erfährt, sich für ihn zu opfern, entgleitet den Kindern allerdings das Spiel und wird zur Realität. Zwischen Alceste, die bis zu diesem Moment die leidgeprüfte (Landes-)Mutter von großer Erhabenheit ist, und Admète kommt es zu einem von ungezügelten Gefühlen beherrschten Ehedrama.
Im dritten Akt reißen die Kinder das Ruder wieder herum und sorgen auf kindlich-spielerische Art für die Auflösung der Situation, indem sie erneut in die griechische Mythologie eintauchen. Als Unterweltsgötter verkleidet haben sie die über sich hinausgewachsene Alceste fortgeführt. Doch das Machtwort „Apollos“ bringt das Lieto fine. Herakles übrigens, der bei Gluck Admète mit seiner Autorität in der Unterwelt unterstützt, ist bei Loy der unerwartet auftauchende Onkel aus Amerika, den die Kinder gleich in ihre Spielordnung einbeziehen.
Loy gelingt es insgesamt, die Mixtur aus mythologischem Hintergrund, Glucks Reformgedanken und Kontext in ein schlüssiges, realeres Gesamtkonzept zu gießen. Allerdings kann auch die schlüssigste Regie nicht darüber hinweghelfen, dass das Werk vor allem in der Festszene nach Admètes Genesung gewisse Längen besitzt, die man durch behutsames Kürzen hätte eliminieren können.
Ivor Bolton, der seine erste Neuinszenierung an der Staatsoper leitet, ist ein erfahrener Gluck-Dirigent. „Alceste“ hat er unter anderem 2005 in einer konzertanten Produktion im Rahmen der Salzburger Festspiele dirigiert, damals leitete er das Mozarteumorchester mit mehrheitlich modernen Instrumenten. Nun steht er am Pult des Freiburger Barockorchesters, mit dem er alle Schattierungen zwischen großer Tragik und ausgelassener Lebensfreude und Dankbarkeit ungeglättet auskostet. Die Musiker aus Deutschland artikulieren präzise, wie man es sich erwartet. Anders als bei den Musiciens du Louvre aus Grenoble, die für Händels „Alcina“ in den Wiener Graben gestiegen waren, verliert sich der Klang der Freiburger Gäste nicht im großen Raum, sondern ist sogar manchmal zu geballt für die Solisten.
Statt des Staatsopernchors kann der von Martin Schebesta einstudierte Gustav Mahler Chor mit präzisen Einsätzen, Fülle und viel Spielfreude punkten. Wobei man sich fragen muss, wie sinnvoll Engagements von fremden Orchestern und Chören aus Kostengründen in einem Ensembletheater sind.
Véronique Gens in der Titelpartie wächst stimmlich nach anfänglich beschränktem Durchsetzungsvermögen und Textunsicherheiten in die große Persönlichkeit herein. Sie strahlt gleichermaßen als Königin noble Distanz aus wie sie als vom Schicksal hart getroffene Ehefrau den Zuschauer an sich herankommen lässt. Gewöhnungsbedürftig ist ihr ausgeprägtes Vibrato. Joseph Kaiser stattet den Admète mit seinem sicher geführten lyrischen Tenor aus. Adam Plachetka ist für die kurze Partie des Hercule mit seinem wohltönenden Bassbariton mittlerweile eine Luxusbesetzung. Benjamin Bruns und Juliette Mars als Kinder von Alceste und Admète gehen in dieser Inszenierung in der Kinderschar leider etwas unter. Aus dem Oberpriester (Clemens Unterreiner) ist ein strenger evangelischer, fast schon sektiererischer Geistlicher geworden, der Alceste und das Kindervolk permanent unter Druck setzt.