Auf der Stange wie angehängte Vögel
WIEN / ELEKTRA
29/10/12 Schier endlos ist die Stille, bis Elektra anhebt mit den ersten Worten: „Allein. Ganz allein.“ Wie oft mag sie sich dieses „Allein“ vorgesagt haben, ihrem Gehirn eingebläut wie auch jede andere Formulierung dieses Monologes. Da kann man greifen, wie Satz um Satz sich in Jahren verfestigt haben im Kopf, wie ein Gedanke allmählich Besitz genommen hat von einem ganzen Menschen: Rache.
Von Reinhard Kriechbaum
Christiane von Poelnitz ist im Burgtheater diese Elektra, die von ihrem ersten Satz weg das vergessen lässt, was den Stoff heutzutage förmlich einkerkert: die Musik von Richard Strauss. Christiane von Poelnitz zieht alle Register ihrer Sprechstimme, sie singt sich beinahe durch die Emotionslagen. Ganz hell kann sie klingen, nach schutzbedürftigem blonden Mädchen, und sogleich virtuos umschalten in einen orgelnden Alt, gefährlich, geheimnisvoll. Wer vermisste da, in Michael Thalheimers Inszenierung des 1903 uraufgeführten Dramas von Hugo von Hofmannsthal, die 111 Mannen, die Strauss in den Orchestergraben gesetzt hat für seine Vertonung?
Elektras Gefühlsrelief ist vielschichtig, es mag zerklüftet sein, aber eines hat es gewiss nicht mehr für Elektra selbst: weiße Flecken auf der Seelen-Landkarte. Diese Elektra ist in- und auswendig gelernte Psychose, und dieses Ausgerichtet-Sein auf einen einzigen Gedanken, auf ein Ziel hin bestimmt sie durch und durch. Elektra ist durchdrungen von der Idee, dass ihre Mutter Klytämnestra und deren Liebhaber und nunmehrige zweite Mann Ägisth mit dem Tod büßen müssen für den Mord an ihrem Vater Agamemnon.
Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ ist – und daran macht Michael Thalheimer seine so dichte wie minimalistische Inszenierung im Burgtheater mit äußerster Konsequenz fest – ein typisches Kind der Zeit des Sigmund Freud. Das machen er und sein Bühnenbildner radikal sichtbar. Keine Bühnentiefe, bloß eine Wand. Daran hat Olaf Altmann ein leicht schräges schachtartiges Gebilde appliziert, das von ganz oben bis knapp zwei Meter über den Bühnenboden reicht. Keine zwei Frauenschultern breit ist dieser Schacht, in dem sich Elektra aufhält, wo sie als dämonische Kraft sozusagen Hof hält. Man hört die Schritte und das Gepolter, wenn die anderen bei ihr vorsprechen: Chrysothemis, die Schwester, bei der sich das Trauma des Vatermords niedergeschlagen hat im unbändigen Wunsch, das Grauen zu verdrängen, zu vergessen, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben. Adina Vetter spielt sie als eine Art lichter Spiegelfigur der Schwester, die mindestens so seelendeformiert ist wie die vermeintliche Furie Elektra: „Wir sitzen auf der Stange wie angehängte Vögel.“
Natürlich muss auch Klytämnestra (Catrin Striebeck) in den Schacht. Zuerst kreischt sie vor Hysterie, weil sie als Mörderin am Gatten nächtens von bösen Träumen heimgesucht wird. Aber dann wirkt sie wie gelähmt, macht große Augen, wenn Elektra sie mit ihren eigenen Waffen schlägt. „Es muss für alles Bräuche geben“, hat Klytämnestra gesagt. Rettung in Rituale? Elektra benennt unverblümt das geforderte Human-Schlachttier, die Königin selbst müsse bluten…
Im engen Schacht also trifft man sich, drängt sich notgedrungen aneinander, und weil dieser unwirtliche Ort obendrein einen schrägen Boden hat, können die drei Frauen auch nicht stehen, ohne sich aneinander anzuhalten, ja manchmal anzuklammern.
Daraus bezieht Michael Thalheimer nun das Bewegungsrepertoire seiner Inszenierung. In der Enge sind die jeweiligen Protagonistinnen verknüpft und aufeinander bezogen wie klassische griechische Figurengruppen. Berührungen, Gesten, das ganz aussichtslose Voneinander-weichen-Wollen: Das ist dicht entwickelt, unmittelbar aus dem Text heraus. Da braucht es keinerlei Utensilien, nicht einmal des Beils, auf das Elektra dann bezeichnenderweise ohnehin vergisst. Ägisth (Falk Rockstroh) hat kurz vorbei geschaut, mit seiner Fistelstimme ist er eher eine Lachnummer.
Und dann also Orest, der tot geglaubte Bruder, den die Schwestern so lange zurück ersehnt haben, von dem sie das Rachewerk erwarten: Da steht er, Tilo Rest als ein Anti-Held in Sakko und Unterhosen, geschminkt wie ein Zombie. Nicht ein einziges Mal wird Elektra ihn anblicken, und auch er sie nicht. Ein eingebildetes Bruder-Bild womöglich, der kurz verbildlichte Untote aus der untersten Seelentiefe? Was dann im Palast wirklich passiert, lässt Michael Thalheimer in Schwebe. Laut Hofmannsthal: Orest ermordet die Mutter und ihren zweiten Gatten, allgemeines Gemetzel. Davon sieht und hört man hier nichts, dafür tritt die Schwester auf, blutbesudelt von oben bis unten. Sie erzählt von Orests Tat – aber es könnte genau so sie selbst zur Tag geschritten und Orest auch für sie eine Art truggebildeter Psycho-Katalysator gewesen sein.
Das jedenfalls ist der Moment, da Elektra sich mit einer Rolle vorwärts aus dem Schachtgefängnis befreit, unten auf dem Bühnenboden landet – und vom befreienden Tanzen mit verklärtem Gesicht selbstverständlich nur redet.
Bei der Gruppe „Sopa&Skin“ hat man einen Popsong in Auftrag gegeben – eigentlich unnötig, der Verzicht auf Musik überhaupt wäre folgerichtig gewesen, die paar E-Gitarrenklänge zur Gliederung der Szenen völlig ausreichend.
Eine ganz wichtige Rolle kommt dem Licht zu: Magische Wirkungen erreicht Friedrich Rom, wenn er Thalheimers Bewegungs- und Gesten-Choreographie von der Seite ausleuchtet. Das setzt dem skulpturalen Effekt noch eins drauf. Da wird die Verkeilung der Figuren, ihre Ausweglosigkeit so recht deutlich. Wie nähert sich doch Klytämnestra der Tochter – mit Berührungen und einem langen Kuss auf den Hals, der ein Vampirkuss werden könnte. Es ist ein Tort, einander so hassen zu müssen.