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Erlöser aus der Psychiatrie

THEATER AN DER WIEN / DER IDIOT

02/05/23 Die Eisenbahn-Schiene ein Möbiusband. Eine Zeitschleife. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen zusammen. Erstarren in der Kälte. Briefe werden mit dem Messer in lebendiges Fleisch geschnitten. Die Herzen verzweifeln. Mieczysław Weinbergs Oper Der Idiot ist ein monumentales Kammerspiel.

Von Heidemarie Klabacher

Mieczysław Weinberg (1918 bis 1996) vollendete seine letzte Oper Der Idiot im Jahr 1986. Die Uraufführung der Kammerversion war 1991 in Moskau. Die Uraufführung der Originalfassung in Mannheim 2013 dirigierte Thomas Sanderling, der am Freitag (28.4.) im Wiener MuseumsQuartier auch die Österreichische Erstaufführung zum Triumph führte. Mieczysław Weinberg, dessen Werk seit einigen Jahren endlich breitere Würdigung erfährt, war im Brotberuf ein erfolgreicher Komponist von Filmmusik. Das spürt man stark bei den vielen abrupten Szenenwechseln in der Oper Der Idiot. Da steigen die Protatgonisten aus dem Wagon und finden sich, statt am Bahnsteig, prompt im Speisezimmer des Generals Jepantschin. Oder in der überbelegten Wohnung des Sekretärs Ganja. Oder im Apartment der von allen Männern begehrten und/oder verachteten Nastassja Iwanowna.

Die Produktion des Theater an der Wien in der Halle E im MuseumsQuartier schlägt dreieinhalb Stunden lang in ihren Bann. Musikalisch-sängerische wie darstellerische Höchstleistungen entfalten sich fulminant in einer Szenerie, der gefühlt nichts „Inszeniertes“ eignet.

Das Eisenbahn-Coupé von Ausstatter Christian Schmidt, wenngleich von glanzvolleren Tagen zeugend, könnte als Retro-Wagon der TransSib auch Schauplatz eines Stücks heutigen Lebens sein – von Regisseur Vasily Barkhatov subtil in allen Facetten der Hoffnung wie der Verzweiflung gezeichnet. Zwei Männer und eine Frau: Myschkin, Nastassja, Rogoschin. Zwei Frauen und ein Mann: Nastassja, Myschkin, Aglaja. Das sind die beiden Figuren-Dreiecke, die in verschiedensten Spiegelungen oder Rotationen das Handlungsgerüst der Oper Der Idiot bilden. Das Libretto von Alexander Medwedew ist quasi ein Konzentrat des gleichnamigen Romans von Fjodor Dostojewski.

Die Männer sind, mit guten wie mit bösen Absichten, fixiert auf Nastassja. Die High Society von St. Petersburg wetzt – wie der unheimliche, leitmotivisch auftauchende Messerschleifer sein Gerät – die Zungen an der skandalumwitterten „Halbweltdame“. In Wirklichkeit ein missbrauchtes Kind, eine einsame verbitterte junge Frau.

„Arien“ gibt es nicht. Die Musik ist durchkomponiert. Sie spiegelt Charakter und jeweilige emotionale Lage der einzelnen Figuren. Als facettenreiche musik-dramatische Portäts entfalten sich in der Personenführung von Regisseur Vasily Barkhatov die großen Partien. Dmitry Golovnin singt und spielt die Titelpartie des Idioten, den Fürsten Myschkin, als tragische Erlöserfigur aus der Psychiatrie. Exaltiert hoffend, verzweifelt zagend – und das oft auf eine einzige Gesangslinie. Des Idioten Aussagen und Urteile sind die eines Kindes, treffen ins Herz, wie ins Fettnäpfchen. Seine Zitate klingen wie ein „Best of Dostojewski“. Etwa zu Ganja: „Sie sind nicht schlecht, nur etwas schwach.“ Oder zu Nastassja, sie habe ihr Leben nicht zerstört, sie halte sich nur für schuldig. Noch treffender wird über Nastassja vom Fürsten im Gespräch mit Aglaja geurteilt, wenn es heißt, diese trage an ihrem Leid, als ob sie sich an jemandem rächen wollte. Das kompositorische Genie Weinbergs gibt solchen Text-Highlights die entsprechende Farbe, lässt aber auch alltäglichere Gedanken oder Dialogpassagen leuchten. Die Musik - immer tonal, was zum Weinberg-Anathema der Zeitgenossen viel beigetragen hat - dient bei aller Opulenz immer auch dem Text und der Story. 

Dementsprechend differenziert ist das Psychogramm, das die Sopranistin Ekaterina Sannikova von der umkämpften und des Umkämpftwerdens längst müde gewordenen Nastassja zeichnet. Souverän gerundeter Klang auf der gesamten Ausdrucksskala dieser Gejagten. Trauer um ein Leben, das ihr schon als Kind gestohlen wurde, klingt in jedem Takt mit. Auch sie hat Stammbuch-Zitate, etwa wenn sie über Myschkin sagt, zum erste Mal habe sie „einen Menschen gesehen“. Nastassjas ehrbare Gegenspielerin aus dem gehobenen Bürgertum ist die Generalstochter Aglaja. Eine dramaturgisch, aber auch musikalisch zentrale Partie, die einzige, die mit der Ballade auf den Ritter von Weinberg eine Art „Arie“ zu singen bekommen hat: Ieva Prudnikovaitė betört stimmlich wie darstellerisch als eine zwischen Intellekt und Emotion hin und her gerissene Frau.

Dmitry Cheblykov singt die Partie des psychologisch, und damit auch musikalisch, recht einfach gestrickten Rogoschin. Für seine verzweifelte erotische Besessenheit gibt es nur einen Ausweg. Noch einer ist zu nennen: Wie auf der Bühne kaum greifbar, ist Petr Sokolov als Lebedjew auch im Bericht kaum dingfest zu machen: Ein Schalk. Ein Hans Dampf in allen Gassen und Salons von St. Petersburg. Ein Rattenfänger mit mitreißender Spiellust und unwiderstehlichem Stimmklang.

Die facettenreiche Musik Weinbergs nimmt, oft mitten in einer noch ruhigen Gesangslinie, im Orchester-Untergrund bereits den nächsten Schmerz, den nächsten Schrei vorweg. Aber auch das wendige Geschwafel des liebdienerisch wuselnden Ganja (stimmlich und darstellerisch geschmeidig Mihails Culpajevs), die wenigen Einlassungen des miesen Totzki (Alexey Dedov souverän in der kleinen Partie als Nastassjas „Ziehvater“) oder die würdevollen Kommentare von Ksenia Vyaznikova als Generalin Jepantschina: Die Musik Weinbergs charakterisiert reich instrumentiert auch die kleineren Partien.

Dabei lässt die Musik noch im emotionalen und klanglichen Fortissimo der Sprache ihr Recht. Man „versteht“ (gesungen wird selbstverständlich in der Originalsprache) jedes Wort, dank der präzisen Leitung von Thomas Sanderling am Pult des fulminanten (und wohl immer noch um sein weiteres Dasein spielendes) ORF Radio-Symphonieorchester Wien.

Die Titelfigur des Romans ist ein Epileptiker. In der Oper wird die Krankheit nicht weiter thematisiert. Myschkin, Russisch Das Mäuschen, ist ein harmloser naiver, ein guter Mensch, der allen Menschen Gutes will. Eine Erlöser-Figur? Die Möglichkeit wird nicht strapaziert. Wie ein anderer „Reiner Tor“ (nicht anderes meint das Wort Idiot) mit guten Absichten, richtet Myschkin im Versuch Gutes zu tun und Nastassja zu retten (notfalls durch Heirat) gesellschaftliches und emotionales Chaos an. Bis zum Rien ne va plus. Dann fallen dem Fürsten zum x-ten mal die Spielkarten aus der Hand. Dann schenkt sich Rogoschin wieder ein Glas Wodka ein, auf das der undurchschaubare Lebedjew sein gieriges Auge richtet. Immer wieder landen die Figuren im Eisenbahnwagon vom Anfang. Spielen immer wieder die gleichen Bewegungen durch, während in den Abteilfenstern die immer gleichen Projektionen die Unendlichkeit russischer Winterlandschaft suggerieren.

Neben der genauen Personenführung von Regisseur Vasily Barkhatov mit den delikat variierten Aktionen der Protagonisten in den Wagonszenen, ist den Videos von Christian Borchers ein Gutteil der Zeitschleifen-Wirkung dieser stupend eindrücklichen Produktion zu verdanken. Im Gegensatz zu Parzival bekommt Myschkin keine zweite Chance, die Mitleidsfrage zu stellen. Es gäbe auch keine Antwort drauf.

Bleibt die gemeinsame Totenwache mit dem Mörder über der Leiche der Geliebten...

Der Idiot – weitere Aufführungen am 3., 5. und 7. Mai jeweils um 19 Uhr im MuseumsQuartier Halle E – www.theater-wien.at
Bilder: Theater an der Wien / Monika Rittershaus
Zur dpk-Besprechung der Weinberg-Oper "Die Passagierin" 2020 in der Oper Graz
Der Mensch ist doch ein Mensch. Oder?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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