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Die Apokalypse wird maßlos überschätzt

WIEN / BURGTHEATER / DIES IRAE

20/12/19 Es geht bergab mit dem jungen Mann, steil bergab. Während er die Hochhaus-Fassade entlang talwärts saust und die Sekunden bis zum Aufschlag zählt, sagt er mit glücklicher Miene: So far so good. Bisher ist alles gut gegangen. Muss überhaupt jeder Absturz mit dem Schlimmsten enden? Wie oft schon ist das Ende der Welt angesagt gewesen – doch hurra, wir leben noch!

Von Reinhard Kriechbaum

Alexander Kerlin und Kay Voges sind im Burgtheater mit Dies Irae – Tag des Zorns angetreten, apokalyptische Fantasien zu entlarven. Oder zumindest dem Dies irae, dem Tag des Zorns, ein wenig vom Schrecken zu nehmen. Paul Wallfisch macht die Sache mit seiner Musik zur Endzeit-Oper.

Die Apokalypse wird, wie wir in zwei Stunden lernen, maßlos überschätzt. Also weg mit dem Vorhang, auf den der Sturzflug vom Hochhaus projiziert wird. Wir finden uns in einem verwirrenden Durcheinander auf einer Drehbühne, die sich so beständig und langsam dreht wie die Welt. Entgegen der Uhrzeigerrichtung. Wie es da aussieht und wer da aller umgeht! In einem Stück Flugzeugrumpf ist eine Mutter mit ihrer Tochter unterwegs, pilotiert von einem wenig Zutrauen erweckenden Piloten der „Air Mageddon“, der auf Autopilot geschaltet hat und tatenlos, aber über Gott philosophierend zusehen wird, wie es mit der Maschine bergab geht. Zu dem Zeitpunkt sind schon auf rätselhafte Weise ein Dutzend Menschen aus dem Flugzeug verschwunden.

In einem Hotelzimmer treibt's ein Liebespaar von Höhepunkt zu Höhepunkt. Liebe bis zumTod? „Wir sterben nicht“, das wird zum Stehsatz in einem Sprech- und Musiktheater, in dem der Tod trotzdem ständig herbeigeredet wird. Zwei alte Leutlein nehmen einander nur noch schemenhaft wahr, aber was kratzt das schon nach langem Leben in Zweisamkeit? Wäre sein Tod eine Theaterszene, dann solle es tunlichst eine Komödie sein, sinniert der Totkranke im Spitalsbett. Schlimm wär's, würde es eine Tragödie, ohne Chance zur Selbstbestimmung.

Ein rätselhaftes Duo sind die beiden Typen im schwarzen Anzug, die unablässig treppauf, treppab staksen. Zwei Untote voller Endzeitgedanken. Sie spintisieren übers Hinscheiden – absurde Wiedergänger, die eigentlich besser wissen müssten, dass es nichts wird mit dem Tod. Mein Favorit-Dialog dieser beiden urkomischen Trantüten: Letzte Nacht bin ich dem Heiland begegnet. – Und was hat er gesagt? – Nichts. – Immerhin.

Was sich tut in den verschiedenen Räumen dieser Wunderbühne, wird mit ausgefeilter Videotechnik auf Leinwände projiziert (Director of Photography/Video- und Lichtgestaltung: Voxi Bärenklau, Video-Art: Robi Voigt). Da laufen auch die Songtexte auf Deutsch mit, die Paul Wallfisch mit seiner Gruppe begleitet. Wir haben es ja dezidiert mit einer popigen Endzeit-Oper zu tun. Die vorherrschende tönende Melancholia rafft sich schon mal zu rockendem Trotz auf (das freilich immer nur kurz).

Die Musik ist ein ganz wesentlicher Kitt in diesem so wüsten wie an Querverbindungen reichen Textkonglomerat über die Unaufhaltsamkeit der letzten Dinge, die da hereinbrechen sollen. Angeblich. Die Bibel gibt viel her, von Hesekiel über Hiob bis zur Apokalypse. Nietzsche ist für Textpassagen so gut wie Walter Benjamin. Die Rede des toten Christus des Jean Paul gibt dem Nihilismus ordentlich Auftrieb. Hugo von Hofmannsthals Die Zeit ist ein sonderbar Ding aus dem Rosenkavalier passt natürlich wunderbar hinein. Zitate von Philosophen in Menge. Erstaunlich, dass die gesprochenen und gesungenen Brocken aus dem literarischen Steinbruch dann doch weit mehr als eine Geröllwüste ergeben.

Der designierte Volkstheater-Chef Kay Voges gibt jeder der rabenschwarzen Figuren auch ein wenig burleske Züge mit. Leise Ironie ist ein Vorzug dieses Totentanzes. Der führt nicht direkt in die Hölle und in den Himmel auch nicht. Es geht immer im Kreis rum, die Geschichte wiederholt sich und mit ihr die Überzeugung, dass die Endzeit unmittelbar bevor stehe. Zugegeben: Zitate aus Reden von Stephen Bannon (man hat nicht nur in der Literatur gegrast) könnten einen schon zum bekennenden Schwarzseher machen.

Dies irae ist nach der Uraufführung (19.12.) überaus herzlich umjubelt worden. Eine Gruppenarbeit, an der die Live-Videokünstler genau so Anteil haben wie die Musiker, die Schauspieler ebenso wie Alexander Kerlin als Letztverantwortlicher für die Textauswahl und Kay Voges für die Regie.

Wie steigt man aus einem Totentanz in Art eines apokalyptischen Perpetuum mobile aus? Von dem Tanzboden heißt es immerhin einmal, er sei so eigenartig weich, ob der Leiber von Toten, die ihn bedecken. Ein anschauliches Auferstehungs-Bild muss also her, und dafür wurde man wiederum in der Bibel fündig. Ezechiel beschreibt so schaurig-schön, wie Knochen an Knochen sich wieder fügen, Sehnen sie verbinden, Haut sie überzieht und Leben in sie kommt. Schubumkehr für den Selbstmörder vom Anfang, er fliegt gen Himmel. Da kann man doch nur einem Finale entgegen tanzen, zu dem Paul Wallfisch nochmal alle Register zieht. Schlussakord, und dann noch ein lapidares Zwiegespräch aus dem Off: Was ist los? – Das Ende kommt. – Das Ende? – Vermutlich.

Aufführungen bis 23. Jänner 2020 – www.burgtheater.at
Bilder: Burgtheater / Matthias Horn

 

 

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