Aus Böhmens Seele und Flur
REST DER WELT / GRAZ / STYRIARTE / HARNONCOURT
28/06/10 Heimat ist Geographie und Ideologie. Ersterer kommt man auch in der Musik relativ anschaulich bei, mit assoziativ ansprechenden Leitmotiven zum Beispiel. Die Gefühlswelten, die Befindlichkeiten aufzuspüren in Smetanas "Mein Vaterland": Dafür braucht es schon einen neugierigen und experimentierfreudigen Menschen wie Nikolaus Harnoncourt.
Von Reinhard Kriechbaum
Die charakteristische Harfeneinleitung zu "Vysehrad": Da trägt ein Instrument die Melodie vor (die dann in der "Moldau" genau so auftaucht wie in "Blanik"). Die zweite Harfe antwortet aber mit ganz anderem Material, gleichsam mit Gedankensprüngen. Harnoncourt macht das auch räumlich anschaulich, positioniert die Harfen am Podium der Helmut-List-Halle in Graz so weit wie möglich voneinander entfernt. Und er tut auch dann, wenn die Hörner und bald die Holzbläser Thema und Seitengedanken denkbar holzschnitthaft ausbreiten, alles dafür, dass Melodienseligkeit und Idylle nicht zu schnell zu einer Gemenelage unreflektierter Heimattümelei zusammenwachsen.
2001 hat Harnoncourt Smetanas Zyklus "Ma Vlast" mit den Wiener Philharmonikern eingespielt. Jetzt in Graz, zum Styriarte-Auftakt, mit dem Chamber Orchestra of Europe: Da kamen vor allem die Bläser-Formulierungen logischerweise ganz anders als mit "Wiener Timbre". Und so hat man "Ma Vlast" mithin neu, gelegentlich unerwartet schroff vorgelesen und nacherzählt. Das Gefällige ist völlig draußen, wenn Harnoncourt "Durch Böhmens Hain und Flur" geleitet, denn er spürt manche rhythmischen Unregelmäßigkeiten, ja: Verschrobenheiten auf, die folkloristischer Lieblichkeit offen widersprechen. "Heimatverklärung" läuft wohl nicht immer rund, und da dürfen mithin die Bläser schon mal robust bis lärmend loslegen. Von der "Moldau bleiben die eleganten Rubati der Bauernhochzeit-Episode nachhaltig in Erinnerung, aber auch, wie unprätentiös Harnoncourt vom impressionistisch angefärbelten "Nymphenreigen" die Fantasie wieder zurücklenkt ins Flussbett.
Harnoncourt lässt sich nicht drängen, auch bei Smetana nicht. Und vor allem lässt er sich Zeit bei den – hierzulande jedenfalls – recht wenig geläufigen Tondichtungen "Tábor" und "Blaník". Da regte Harnoncourt seine Zuhörer zu relativ später Stunde an, sich wirklich einzulassen auf die Vielgestaltigkeit des Hussiten-Chorals, der in beiden Stücken geradezu unerhörte Modulationen durchmacht. Wenn es um Choralvariation im 19. Jahrhundert geht – fiel einem bislang dazu Smetana ein?