Wenn Artisten sterben und der Zirkus weiterlebt
GRAZ / LA STRADA
05/08/19 Was für ein Setting für eine Produktion des Genres Nouveau Cirque! Der Circus Ronaldo ist ein ganz alter Zirkus, fast wie aus dem Märchenbuch. Aber die Sägespäne in der Manege sind zu Grabhügeln gehäuft. Die Zirkuskünstler sind alle tot.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein Kreuz steht auf jedem der Sägespan-Haufen, das Handwerkszeug der jeweiligen Akteure bildet den Grabschmuck. Und ein Blechblasinstrument liegt auch da. Artisten, Dompteure und Clowns stellten wohl auch die Zirkuskapelle in dem kleinen Unternehmen. Nur einer hat überlebt, Danny Ronaldo. Vergeblich, seine Versuche, das Publikum wegzuschicken. Stattdessen erntet er Gelächter. „Non e comico“, versichert er mit Trauermiene. Aber da gewinnen plötzlich die Musikinstrumente Eigenleben. Es ist, als wollten die Toten an ein ehernes Gesetz nicht nur der Zirkuskunst erinnern: The show must go on. Und so schnappt Ronaldo den Zylinder des Direktors, den Schirm der Ballerina, die Jonglierringe. Die Kiste, in der junge Damen auseinandergesägt werden, wird auch in Betrieb genommen. Das missglückte Zauberkunststück generiert einen Clown mit dem Unterkörper der Seilartistin... Fidelis Fortibus heißt die so urkomische wie todtraurige Produktion, eine Apotheose auf eine eben doch noch nicht ausgestorbene Kunst, voll Melancholie und Charme.
Der Nouveau Cirque ist eine der Säulen des Festivals La Strada in Graz. Man begegnete heuer dort auch zwei famosen Gruppen, die man schon beim Salzburger Winterfest hat kennen lernen können: Gravity & Other Myths, 2016 beim Winterfest, haben diesmal vor dem Grazer Rathaus der Schwerkraft ein Schnippchen geschlagen. Das Wort „Bodenturnen“ (die Stärke der Gruppe aus Australien) bekommt bei ihnen ganz andere Bedeutung, wenn sich das alles in der luftigen Höhe von Menschentürmen abspielt.
La Strada ist schon lange kein reines Straßenkunst-Festival mehr. Man verkauft in etwa die Hälfte der Produktionen teuer, um die andere Hälfte öffentlich und kostenlos zeigen zu können, das ist die Strategie. So kam die kanadische Gruppe FLIP Fabrique für mehrere Abende ins Opernhaus. Winterfest-Besucher haben von ihrem Programm Attrape-moi die aberwitzige Diabolo-Darbietung und die poetische Hula-Hoop-Nummer in Erinnerung. Vor allem aber den Trampolin-Showdown, wenn sich die Turner von Fenster zu Fenster katapultieren und schließlich eine Choreographie auf die Haus-Kulisse zaubern. Da gehen nicht nur die Artisten, sondern auch der Jubel die Wände hoch.
Eine Blütenlese vom Sonntag (4.8.) zu Ende gegangenen zehntägigen Festival open air: Für Mulier ist das lateinische Wort für Frau zugleich Programm. Die fünf jungen Damen der Compania Maduixa aus dem spanischen Valenzia sind Tänzerinnen, die ihre Beine auf Stelzen gleichsam festgenagelt haben. Eine Botschaft: Auch mit hinderlichem Bein-Werk kann man als Frau die gläserne Decke durchbrechen, sich befreien und tanzen...
Höchst eigentümlich die französischen Kollektive Cie Oposito & Décor Sonore: Acht Musik-Humanoide, Mischwesen aus Mensch und Lautsprecher, folgen einer weiß gekleideten Dame, Sängerin und Dirigentin bei der Stadt-Prozession. Eine kreativ-bewegte Klanginstallation aus verfremdeter Musik und Geräuschen. Der chilenische Clown Murmuyo gehört schon zum Straßentheater-Inventar von La Strada.
Immer gibt es Produktionen für Kinder: Wenn Herr Wolf, der Uhrmacher, sich bei Frau Geiß, Besitzerin einer aus dem Takt gekommenen Standuhr, einstellt, drängst sich ein ironischer Blick auf das Grimm'sche Märchen auf (Schäfer Produktion, Deutschland) . Und das Theater Asou mit Pinguin fishing? Eine solche Geschichte könnte Greta Thumberg vielleicht nach ihrem Segelturn in die USA auch erzählen. Jedenfalls schwimmt viel Plastik im Eismeer und die Fisch-Menüs wollen den Pinguinen nicht recht schmecken.
Etwas langwierig eine Koproduktion von La Strada gemeinsam mit dem Linzer SHÄXPIR-Festival: Das Planetenparty Prinzip und TaO nimmt das Publikum mit auf Weltraumreise. Vor der Besiedelung eines neuen Planeten wollen die Bewohner des Raumschiffs, die schon Jahrtausende unterwegs sind, aktuell von den Erdlingen wissen, was gut und wichtig wäre in und auf einer solchen neuen Welt. Was als hintersinniges Mitmachtheater gemeint ist, hat eine Tendenz zur klamaukhaften Schnitzeljagd. Nach zweidreiviertelstunden Mitspielen hat der Schreiber dieser Zeilen den Orbit verlassen.
In eine originelle Spielstätte wurde das italienische Kollektiv Effetto Larsen eingeladen: Im Westen von Graz steht ein riesiges Areal, das ehemalige Brauereigelände Reininghaus, zur Bebauung frei. Ein neuer Stadtteil für 15.000 Bewohner soll dort entstehen. Die Tennenmälzerei steht unter Denkmalschutz, wird dereinst wohl so etwas wie ein lokales Büro- und Kulturzentrum (man denkt an die Salzburger Rauchmühle). Jetzt mal war das desolate, aber höchst stimmungsvolle Gebäude Ort der Mitmach-Performance After/Dopo. Das Team um Manfredo Lanfranchi hat die Besucher zum Nachdenken über den eigenen Tod, über damit verknüpfte Ängste und Hoffnungen animiert. Woran soll sich die Nachwelt über mich erinnern, wenn ich einmal nicht mehr bin? Das zum Beispiel durfte das Publikum an eine Wand schreiben. Wer die Nerven dazu hatte, durfte auch ein imaginäres Testament verfassen. Gestorben wird ja nicht nur im Zirkus...