Martha, Martha, du entschwandest
GRAZ / MARTHA
14/01/19 Schon mal Adolphe Adams Postillon de Lonjumeau und Auberts Stumme von Portici auf der Bühne gesehen? Oder von Flotows Martha mehr mitbekommen als „Ach so fromm, ach so traut“ und die „Letzte Rose“ im Opern-Wunschkonzert? Die Dauerbrenner von einst sind nur noch theoretische Größen.
Von Reinhard Kriechbaum
Friedrich von Flotows „Martha“ hat sich in diesem Jahrtausend immerhin in die Wiener Volksoper verirrt (Aufführungen zwischen 2003 und 2006). Nun schmachtet Lyonel der über Nacht entschwundenen jungen Dame in der Grazer Oper nach. Eine Erweckung zu neuem Opernleben? Sagen wir vorsichtiger: Man stellt das Werk zur Diskussion.
Einer solchen ist die Musik allemal wert. Wie sich ein mecklenburgisch-vorpommerscher Krautjunker seinen Rossini aneignete, wie er ihn filterte durch manches, was er an Aktuellem in den 1830er und 1840er Jahren in Paris (wo der junge Mann studierte) aufgabelte – das ergab schon etwas sehr Eigenes. Martha ist wesentlich geschmeidiger als das deutsche Repertoire um Weber/Lortzing, aber eben auch keine italienische Romantik à la Donizetti. In Paris lernte man damals das „Internationale“.
Dass der Dirigent der Grazer Aufführung, Robin Engelen, manchmal das Orchester recht aufdreht und uns damit wohl zeigen will, dass Wagner auch nicht mehr so weit weg ist (Martha wurde 1847 im Wiener Kärntnertortheater uraufgeführt), bekommt der Sache nicht unbedingt. Es wäre ergiebiger, die Noten konsequenter in Richtung Rossini zu lesen. Worauf sich Friedrich von Flotow wirklich verstand: eingängige Gesangsmelodien von solistischen Holzbläsern in Terzen und Sexten gefühlig umschmeicheln zu lassen. Das hat er zelebriert und damit seine „Martha“ deutlich abgesetzt vom italienischen Belcanto.
Das alles will freilich auch gesanglich überzeugend bewältigt sein. Der Tenor Ilker Arcayürek hat seine Stärken eher im metallischen Strahlen – und das ist's, was die Partie des Lyonel am allerwenigsten braucht. Nicht nur, wenn er der zärtlich-verzweifelt der entschwundenen Martha nachschmachtet, kam der Sänger am Premierenabend (12.1.) in der Höhe in allerhöchste Not. Kim-Lillian Strebel ist Lady Harriet alias Martha: tadellos in den Koloraturen, anstellig in der Lyrik, aber gerade in der „Letzten Rose“ stilistisch so gar nicht geführt oder unterstützt vom Dirigenten. Für diese Rolle brauchte es insgesamt stringentere Kontur. Deutlich besser Karten (und selbstbewusstere Gestaltung) zeigt das „niedere Paar“, Anna Brull (Nancy) und Peter Kellner (Plumkett). Meriten hat die Aufführungen in den gar nicht so wenigen, sorgsam tarierten Quartettszenen. Mehr als ein Stichwortbringer ist Wilfried Zelinka als Lord Tristan.
Was tun mit dem eigenartigen Libretto, in dem bemerkenswerte Ironie mit einer höchst banal-ungereimten Handlung kollidiert? Lady Harriet und ihre Hofdame beschließen, sich gegen die Langeweile am Hof unters Volk zu mischen, verdingen sich aus Jux auf dem Markt in Richmond als Mägde und landen unversehens tatsächlich auf dem Bauernhof von Lyonel und Plumkett. Dort werden sie zwar von Lord Tristan befreit, aber die beiden Männer, nachdem sie Handgeld für die Damen bezahlt haben, sind zweifellos im Recht und verlangen nach diesem. Die hochmütige Harriet lässt Lyonel gar in die Klapsmühle bringen. Gut, dass Lionel sich schließlich als Adeliger herausstellt...
Regisseur Peter Lund formatiert das um: Das Volk von Richmond sind die Insaßen von Bedlam (des Londoner Bethlehem Royal Hospital). Die Geisteskranken dort dürfen auch Theater spielen. Der Mägde-Markt als Frühform von Psychodrama. Adelige Gönner besuchen die Anstalt, so kommen Harriet und Nancy auf die Idee, dort mitzuspielen. Lyonel dürfte wegen Depression einsitzen.
Das höfische Leben überzeichnet Peter Lund grell, in der geschlossenen Anstalt stellt der darstellerisch sehr geforderte Chor Bildwelten à la William Hogarth nach. So bekommt die Spieloper einen ungewohnt düsteren, sozialkritischen Touch. Ein wirkliches Happy End lässt der Regisseur nicht zu und lässt offen, ob Harriet und Lyonel ein Paar, oder ein glückliches gar, werden.
Fazit: Die Verlegung in die Barock-Psychiatrie ist auch nicht viel glaubwürdiger, aber auch nicht lächerlicher als die Handlung am originalen Schauplatz. Das Ummodeln der Martha hatte ja schon immer seine Tücken. Nestroy hat es ein Jahr nach der Uraufführung in Wien mit „Martha oder Die Mischmonder Markt-Mägde-Miethung“ versucht – und diese Parodie war nach genau drei Aufführungen im Carl-Theater passé.