Die Symphonie vom eigenen Wohnblock
GRAZ / LA STRADA
10/08/18 Was für ein Setting: Das Grazer Philharmonische Orchester ist verteilt auf mehrere Balkone einer Wohnsiedlung im Nordwesten der Stadt. Das Publikum sitzt in Liegestühlen auf der Wiese zwischen den Blocks, wo sonst Kinder sich mit Hutschen und Rutschen die Ferienlangeweile vertreiben.
Von Reinhard Kriechbaum
Malerisch die zuhörende Menschenschar, die auch die multiethnische Bewohnerschaft hier abbildet. Frauen mit Kopftüchern und Kinder beobachten von der Seite, was hier vor sich geht. Mit glücklichen Gesichtern lassen sich neu angekommene Zuhörer in die Liegestühle fallen – sie haben den Un-Ort in der urbanen Pampa gefunden. Viele Balkone sind leer (schließlich ist Urlaubszeit), von anderen lugen Neugierige herunter. Vielleicht wäre der September die bessere Zeit für diese Aktion gewesen, aber das neuntägige Festival „La Strada“ findet nun mal Ende Juli/Anfang August statt. Heuer war's das zwanzigste.
„Grand Ensemble“ heißt das aufzuführende Stück, eine Art Architektur-Symphonie von Pierre Sauvageot. Das tönende Soziogramm einer Wohnsiedlung, gebaut aus elektronisch gemixten Geräuschen (von Babygeschrei und Hundegebell über Handy-Klingeltöne bis zu quietschenden Türen und zu laut aufgedrehtem Radio), aus Interviews, die man mit Bewohnern geführt hat – und eben einer Komposition für großes Orchester. Beides – Wohnsiedlung und Symphonieorchester – meint der französische Begriff „Grand Ensemble“.
Über die Bewohnerinnen und Bewohner kann man da einiges erfahren, über die Nachbarschaften im Melting pott, und auch über die Architektur: Sie wirkt weiträumig und großzügig. Die knapp neunhundert Menschen in über vierhundert Wohnungen hier haben's nicht so schlecht getroffen.
„La Strada“ also feierte heuer Jubiläum und es war aufschlussreich zu beobachten, wie vielfältig das Straßentheaterfestival geworden ist, sprich: wie engagiert das Programm der Stadt eingeschrieben ist. Da ist vieles, was unter Nouveau Cirque zu summieren ist. Ähnlichen Gruppen könnte man auch beim Salzburger Winterfest begegnen (gibt es in kleinem Maßstab in Graz übrigens auch, dort heißt es Cirque Noel). Bei „La Strada“ gab es heuer Veranstaltungen in der Oper und in einem Zelt im Augarten. Diese wurden einigermaßen teuer verkauft und trugen mithin das reichhaltige und sehr buntscheckige kostenlose Programm im Stadtraum. Was da alles Platz hatte! Da war mehrere Tage lang ein Künstler zu beobachten, der tonnenschwere Steinblocks bewegt und beinah unmöglich scheinende Balancegebilde schafft. Die Zuschauer lagerten in der Wiese, mit gleich viel Geduld wie Nick Steur, der für sein sein schöpferisches Tun mit Keilen und Flaschenzügen natürlich Stunden braucht. Ein Slow-Motion-Event.
Marco Barotti ist ein Elektronik-Bastler. Für seine Intervention „The Woodpecker“ hat er metallene High-Tech-Spechte entwickelt, die umso aufgeregter klopfen, je mehr und je näher Handys an eine Antenne kommen. Und wenn dann auch noch gesurft wird am iPhone... Aber meistens klappern die Woodpecker sowieso heftig vor sich hin, weil wir ja immer von Strahlung umgeben sind. Deren Visualisierung und Hörbarmachung ist eigentlich gespenstisch und macht nachdenklich.
72 Künstlerinnen und Künstler aus acht Ländern waren an den neun Tagen in Graz, und viele Produktionen sind in internationaler Zusammenarbeit entstanden (da fließt dann EU-Geld – eine Strategie, wie sie auch die Tanzszene gerne verfolgt). „La Strada“ zielt mit diesen Koproduktionen darauf ab, Fragen urbanen Lebens aufzugreifen und – na klar – lustvoll zu vermitteln. Die Mischung aus Artistik, Musik, Tanz macht's letztlich aus. Eigentlich ist alles bei „La Strada“ familientauglich.
Ein Beispiel für solch gesellschaftspolitisches Engagement, das nicht belehrend, sondern sogar mit gehöriger (Selbst)Ironie daher kam, war die Produktion „Immortels: Der Flug“ der Compagnie Adhok. Die französische Tanzgruppe war verstärkt um eine Schar junger Grazerinnen und Grazer, Generation 20 plus. Unbändig tanzen sie durch die Stempfergasse, nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer mit auf ein Stationentheater, in dessen Verlauf sich schnell zeigt: Allzu viel Optimismus ist für heutige Jugendliche nicht angebracht. Bewerbungsgespräche? Enden für alle ruinös. Und auch beim Dating läuft so manches nicht nach Wunsch. Wo wollen die jungen Leute in zehn Jahren stehen? Was zuletzt stirbt, ist die Hoffnung, und das ist gut so.