Ausgehustet im letzten Röcheln des Fin de siècle
REST DER WELT / GRAZ / DER ZAUBERBERG
15/01/18 Wie Donald Trump sich auch äußern wird, wenn er bald in Davos beim Weltwirtschaftsforum aufkreuzt: Man darf davon ausgehen, dass es entschieden weniger Wörter und Worte sein werden, als Thomas Mann sie seinen Protagonisten auf dem „Zauberberg“ in den Mund gelegt hat. Auch wenn's ziemlich postfaktisch zugehen mag da wie dort.
Von Reinhard Kriechbaum
Und keine Sorge: Wenn auch der „Zauberberg“ in etwa vier Mal mehr Seiten hat als eine derzeitige Twitter-Nachricht Buchstaben – in der Strichfassung von Alexander Eisenach, die im Grazer Schauspielhaus zur Uraufführung kam, bleibt sehr viel Thomas Mann übrig. „Im Handumdrehen werden wir mit der Geschichte nicht fertig werden“, das gilt für Theater und Buch. Und sage keiner, er wäre in den ersten fünf Minuten nicht vorgewarnt worden.
Ein erwartungsgemäß langer, aber keineswegs endloser Abend. Eine Aufführung, in der das Nicht-Verjährtsein eines literarischen Textes ohne plumpe Anbiederung übermittelt wird. Eine Textfassung, die gerade so eingekocht ist, dass sie den jeweiligen Darstellern, den Typen und Physiognomien eine deutliche Ambivalenz aus spielerischen Duktus und lauernder Aggressivität ermöglicht. Also keine eindimensional gemeißelten Figuren, geopfert auf dem Schlachtfeld der Didaktik. Schließlich eine Aufführung, die immer wieder, vor allem in den ersten beiden der in Summe dreieinhalb Netto-Spielstunden, mit ihrer Bildmächtigkeit überrumpelt.
Die Liegestühle hat Alexander Eisenach optisch und inhaltlich total rausredigiert. Die Liegekur: Da wird der junge Castorp am Boden eingewickelt in eine riesige rote Decke und gleich auch noch mit Leukoplast gefesselt. Es geht schnell ans Eingemachte für Hans, diesen reinen Toren im letzten Röcheln des Fin de siècle. Genau deshalb ist, nach einer Bronchialorgie des Ensembles vor noch geschlossenem Vorhang, rasch ausgehustet.
Ein Halbrund aus drei Fenster/Türbogen auf der Drehbühne, daneben werden mit Hebebühne und Versenkung ganz rasch andere eher angedeutete Räume herbei- und wieder weggeholt. Phasenweise ist eine Videokamera den Protagonisten auf den Fersen, liefert überdimensionale Projektionen auf einen Gazevorhang, hinter dem das reale, fast verzwergt wirkende Spiel durchscheint. Da wird sichtbar gemacht, wie verrückt die Maßstäbe, wie verquer die Proportionen in den Gesprächen der Menschen hier im Sanatorium sind, wie sich ihr „Small Talk“ unversehens zur bizarren Groteske, zum beängstigenden Pandämonium auswächst. Diese Menschen untermauern ihre Argumente mit heftigstem Gestikulieren, mit jäh losbrechender Energie und ausuferndem Bewegungsdrang. Soigniertheit ist generell keine Tugend im Sanatorium Berghof, eher ständige Bewegung, ein Zootier-Effekt. Clawdia Chauchat (Sarah Sophia Meyer), die Französisch sprechende Dame aus Russlands tatarischer Ferne, ist innerhalb der in Höhenluft entrückten Menagerie ein nicht minder charismatischeres, wenn auch ruhigeres Exemplar.
Hans Castorp (Raphael Muff, ein Temperamentsbündel mit blonder Haarmähne) kommt also in diese Gesellschaft und rasch in die Fänge des ihn nicht nur ideologisch bedrängenden Settembrini (Florian Köhler). In einer buffonesken Szene heißt es vielleicht zu optimistisch, zwei Drittel im Publikum hätten den Roman nicht gelesen – diesen wird vielleicht nicht gleich aufgehen, dass der radikale Naphta (Nico Link) ein Kirchenmann, ein besserwisserischer Jesuit ist. Er hat eine lange Soloszene nach der Pause, in der er ein Kreuz schleppt und über all die ideologischen -Ismen herzieht, die nicht die Seinen sind. Doktor Behrens (Frederik Jan Hofmann) und der zur Frau mutierte Doktor Krokowski (Evamaria Salcher) üben dosierte, aber keinen Widerspruch duldende Gewalt aus. In kaum einem literarischen Werk der Zeit kommt übrigens die Psychoanalyse so schlecht weg wie im „Zauberberg“. Mynheer Peperkorn (Franz Xaver Zach) produziert aufgeblasen seine Worthülsen, wogegen Joachim Ziemssen (Clemens Maria Riegler) mehr als einen Anflug von Pragmatik und Lebensnähe zeigt. Er wird der einzige sein, der die Abreise wagt – aber er bringt denn auch, nach der als vorletzte Szene gruppierten Séance, die ruinöse Botschaft vom Krieg, er wird zuletzt all die Leute als Leiber (und Opfer) auf einen Haufen befördern. Höhenluft schützt vor dem Gang der Welt nicht.
Tribut an die außerordentliche Länge der Aufführung: Der Teil vor der Pause wirkt sprachlich präziser gefasst, in den Spiel-Anordnungen stringenter und besser synchronisiert. Ein wenig wirkt es so, als sei dem Regisseur dann mal eingefallen, dass die langen Monologe auch ihre Zeit brauchen – und das passiert, gelegentlich schon sprachlich recht gestelzt, vorwiegend im zweiten Teil. Da geht's schon auch über Strecken dürr und sperrig zu. Aber Alexander Eisenach bekommt das immer wieder in den Griff, entfacht mit Drehbühnen- und Lichteffekten Theaterzauber, baut im entscheidenden Moment aufs Charisma seines insgesamt hochambitionierten Ensembles. Niemand kann erwarten, dass der „Zauberberg“ umfassend nach-, geschweige denn fertig erzählt würde. Auch in dreidreiviertel Stunden nicht.