Des Kardinals Tochter endet auf dem Scheiterhaufen
REST DER WELT / MÜNCHEN / LA JUIVE
29/06/16 Die späte Rückkehr einer früheren Erfolgsoper: Während Calixto Bieito die aktuelle Handlung von Halévys „La Juive“ szenisch zwar reduziert, aber mit adäquaten Mitteln auf die Bühne des Münchner Nationaltheaters bringt, fehlt es dem Dirigat von Bertrand de Billy an Spannung.
Von Oliver Schneider
85 Jahre ist es her, dass Jacques Fromental Halévys La Juive zuletzt in München gezeigt wurde. Gerade im Zuge der aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen war es ein wichtiges Zeichen, dass Nikolaus Bachler das Werk als Eröffnungspremiere der heurigen Festspiele angesetzt hat.
Einen starken Akzent setzen Calixto Bieito und Bertrand de Billy gleich zu Beginn, wenn sie ohne Ouvertüre die bedrohlich wirkenden Klänge der Orgel von St. Michael per Band einspielen lassen und Rachel im grünen Kleid als einzigem Farbtupfer des Abends auf der leeren, schwarz-grauen Bühne nach vorne zur Rampe gehen lassen. Plötzlich stimmt, wiederum eingespielt, der Chor (hervorragend einstudiert von Sören Eckhoff) das Te Deum an: „Dich, Gott, loben wir“. Wie Schläge kommen der Jüdin Rachel diese Andersgläubige ausgrenzenden Lobpreisungen vor, denn es ist derselbe Gott, aufgrund dessen sie und ihr Vater verfolgt werden.
Rachel hält sich aber nur für eine Jüdin, eigentlich ist sie die Tochter des Kardinals Brogni. Der Jude Eléazar hat sie in Rom vor dem Flammentod gerettet und als Ziehtochter aufgezogen, im anschließenden Pogrom allerdings seine eigenen Söhne verloren. Darauf gründet sein tiefer Hass auf die Christen.
Bieito erzählt die eigentlich zur Zeit des Konstanzer Konzils spielenden Geschehnisse der Grand Opéra auf das Libretto von Eugène Scribe mit sparsamen Mitteln im Heute. Eine Mauer, wie man sie auch realiter als Grenze, als Zeichen für Trennung und Ausgrenzung findet, beherrscht symbolisch die Bühne (Rebecca Ringst). Samuel – eigentlich der Reichsfürst Léopold, der verbotenerweise Rachel liebt – versucht diese Mauer bei seiner Serenade „Loin de son amie“ mit ihren vertrackten Höhen zu erklimmen (sicher John Osborne). Erfolglos. Bieito bedient sich für ihn ungewöhnlich feiner Zeichen – Eléazar quälende Kinder, Schriftzüge –, mit denen er an die realen Parallelen ausserhalb des Opernhauses in Erinnerung ruft. Ist im 21. Jahrhundert mehr nötig? Nein, denn Flüchtlinge, Ausgrenzung und Gewalt gegen Andersdenkende sind für uns allgegenwärtig, mindestens in den Medien.
Bieito konzentriert sich deshalb auf die Beziehungen und inneren Konflikte der fünf Hauptpersonen. Rachel landet für ihre verbotene Liebe zu Léopold auf dem Scheiterhaufen. Ihre christliche Rivalin Prinzessin Eudoxie (Vera Lotte Bäcker, mit blitzblanken Koloraturen) bittet sie flehentlich darum, die Schuld ganz auf sich zu nehmen, um Léopold zu retten, wozu sich Rachel auch durchringt. Die beiden Szenen zwischen Rachel und Eudoxie entfalten besonders intensive Wirkung.
Eléazar ist seinerseits immer wieder hin- und hergerissen zwischen Verbitterung, Hassgefühlen und Rachegelüsten sowie der Frage, ob er aus Liebe zu Rachel selbst konvertieren soll. Aber letztlich ist er ein Glaubensfanatiker, genau wie der Kardinal Brogni (stimmlich kultiviert Ain Anger, darstellerisch von der Regie allein gelassen), die beide nur ihre Religion als die wahre ansehen. Anders als im Libretto, kommt bei Bieito übrigens nur Rachel in den Flammen um, während Eléazar nur die Ahnungen Brognis bestätigt: Es ist seine Tochter, die er selbst dem Feuer übergeben hat.
In München gibt Roberto Alagna sein Debüt als Eléazar. Er bringt die Seelenzustände der facettenreichen Persönlichkeit und seinen Fanatismus ab dem dritten Akt darstellerisch hoch-expressiv und mit vorbildlicher Diktion zum Ausdruck. Stimmlich bleibt er der Partie trotz immer noch eleganter Mittellage einiges schuldig. Vor allem kämpft er hörbar im oberen Register, worunter an der Premiere sein „Dieu m’éclaire“ im vierten Akt litt. Aleksandra Kurzak hingegen verblüfft rundherum als seine starke, leidenschaftliche Tochter Rachel. Sie erhielt auch den stärksten Applaus an diesem Abend.
Enttäuschend ist das Dirigat von dem im französischen Repertoire eigentlich heimischen Bertrand de Billy. Irgendwie will keine Spannung aufkommen, so dass einem der auf rund Dreidreiviertelstunden gekürzte Abend immer noch sehr lange vorkommt. Immerhin waltet de Billy mit zartem Pinselstrich, so dass die vielen solistischen Einsätze der Holz- und Blechbläser wunderbar hervortreten.
Weitere Vorstellungen am 30. Juni, 4. und 8. Juli sowie 22., 26. und 30 – www.staatsoper.de