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Wie eine Hobbit-Trilogie für Mozart-Fans

REST DER WELT / JAPAN / MOZART

11/03/15 Alle Mozart-Sinfonien an einem Wochenende? Geht, in Japan. So feierte die Japanische Mozartgesellschaft ihren 60. Geburtstag. Ulrich Leisinger, der Wissenschaftliche Leiter der Stiftung Mozarteum, war dabei und hat viel zu erzählen.

REST DER WELT / JAPAN / MOZART

11/03/15 Alle Mozart-Sinfonien an einem Wochenende? Geht, in Japan. So feierte die Japanische Mozartgesellschaft ihren 60. Geburtstag. Ulrich Leisinger, der Wissenschaftliche Leiter der Stiftung Mozarteum, war dabei und hat viel zu erzählen.

Von Ulrich Leisinger

Vor einigen Jahren war es in deutschen Großstädten Mode, Obdachlose durch Dauerbeschallung mit Mozart aus Bahnhöfen zu vertreiben. Der wissenschaftliche Nutzen des Experiments wird vermutlich hoffnungslos überschätzt, wie vieles wofür der Name Mozart herhalten muss – so wie der sogenannte Mozart-Effekt vermutlich noch kein Baby schlauer gemacht hat. Eines ist aber gewiss: In Japan würde die Maßnahme nicht fruchten. Denn im Land der aufgehenden Sonne wird ein Kult um das in Mitteleuropa langsam exotisch werdende musikalische Erbe der Klassischen Musik gemacht, bei dem Mozart und Beethoven obenan stehen und Brahms und Schubert in gebührendem Abstand folgen. Daher würden sich wahrscheinlich an jedem U-Bahn-Hof, an dem Mozart dauernd gespielt würde, lange Schlangen bilden, um dem großen Komponisten und Salzburg zu huldigen.

Geburtstage werden auch in Japan gebührend begangen. Der Unterschied zu Europa liegt aber darin, dass das Geburtstagskind die Feier nicht nur ausrichtet, sondern dabei seine Gäste selbst ausgiebig beschenkt. Die Japanische Mozartgesellschaft hat dieser Tage ihren 60. Geburtstag mit Festkonzerten in der berühmten Suntory Hall in Tokio gefeiert, wobei alle Mozart-Sinfonien an einem Wochenende gespielt wurden. Anfangs standen selbst die Mitglieder des Vorstands der Idee ihres Präsidenten, des angesehen Komponisten Shigeaki Saegusa (Jg. 1938), skeptisch gegenüber. Doch einmal überzeugt. machte man sich mit Feuereifer und größter Akribie ans Werk.

Was heißt überhaupt „alle Mozart-Sinfonien“? Längst wissen wir, dass die heilige Zahl von 41 Sinfonien (unter den vielen Konzertbesuchern ohnehin nur die große g-Moll-Sinfonie KV 550 als „Nr. 40“, die Jupiter-Sinfonie als „Nr. 41“ und vielleicht noch die kleine g-Moll-Sinfonie KV 183 als „Nr. 25“ und die A-Dur-Sinfonie KV 201 als „Nr. 29“ bekannt sind) nicht unantastbar ist: Denn drei der 41 Sinfonien aus dem Hauptteil der Alten Mozart-Gesamtausgabe, die zwischen 1876 und 1883 erschienen ist, hat Mozart allenfalls (ab-)geschrieben, aber nicht selbst komponiert: KV 17 alias Nr. 2 ist ein Werk Leopold Mozarts, KV 18 (Nr. 3) unzweifelhaft von Carl Friedrich Abel und KV 444 (Nr. 37) stammt von Michael Haydn.

Umgekehrt war schon die Alte Gesamtausgabe clever genug, Stücke, die in Quellen ungewisser Autorisation vorlagen, mit Vorsicht zu behandeln und nur im Supplement zu publizieren. Stil- und quellenkritische Forschungen haben dazu geführt, dass heute nur ein Teil dieser Werke als wirklich von Mozart stammend angesehen wird. Hinzukommen gegenüber dem Stand von 1883 sind immerhin mindestens drei Sinfonien, von denen seinerzeit nur die Incipits, aber keine einzige musikalische Quelle bekannt waren, und die von der Stiftung Mozarteum Salzburg im Rahmen der Neuausgabe aller Sinfonien in der Neuen Mozart-Ausgabe, auf die man sich bei den Aufführungen stützte, zwischen 1956 und 1985 im Druck herausgegeben wurden. Alles waren jetzt in Japan 45 Sinfonien zu hören.

So erklangen am Samstag, den 7. März, 26 Jugendsinfonien in drei Konzerten um (11, 15 und 18:30 Uhr), gespielt von einem Orchester unter drei verschiedenen Dirigenten, die zugleich auch unterschiedliche Aufstellungen des Orchesters bevorzugten. Am Sonntag, den 8. März, folgten die übrigen 19 Werke. Das Theater Orchestra Tokyo spielte am ersten Tag mit 26 bis 32 Musikern (abhängig von der Zahl der Bläser, die Mozart in den einzelnen Werken verlangt) sehr beherzt und ließ sich dabei willig auf die unterschiedlichen Klangvorstellungen der Dirigenten ein. Ein solcher Symphonien-Durchlauf erlaubt es, die eigentliche unglaubliche kompositorische Entwicklung, die Mozart in seinem kurzen Leben durchlaufen hat, wie im Zeitraffer nachzuvollziehen. So zeigen sich die Qualitätssprünge die Mozart um 1772, um 1774 und dann noch einmal um 1785 gelungen sind ebenso deutlich wie Konstanten in der Orchesterbehandlung, beispielsweise die überdurchschnittliche wichtige Funktion der Bass-Stimme oder die besondere Mozart’sche Klangfarbe der Holzbläser.

Etwas flach vielleicht, vor allem was das Spektrum der Dynamik und das Tempo angeht, die ersten 10 Symphonien unter dem jungen Daisuke Soga, der aber die Bläser, eine Mozart’sche Spezialität von Anfang an, leuchtend hervortreten ließ. Stärker an der historischen Aufführungspraxis orientiert (bei modernem Instrumentarium) waren die folgenden Gruppen von neun beziehungsweise sieben Werken unter Leitung der sichtlich abgeklärteren Dirigenten Seikyo Kim und Takuo Yuasa. Letzterer konnte dem Orchester am ersten Tag trotz vorgerückter Spielstunde doch die schönste Klangpracht abgewinnen, begünstigt freilich auch durch die besondere Qualität der ihm anvertrauten Stücke: Die Sinfonien KV 128-130 und 132-134, im Verlaufe von 4 Monaten im Jahre 1772 in Salzburg entstanden, bilden Mozarts erstes Opus, das systematisch die Möglichkeiten einer bestimmten Gattung ausreizt und ist voll von stupenden Ideen und musikalischen Experimenten, von denen einzelne freilich nicht ganz gelungen sind: Mozarts Versuch etwa, in die Sinfonie KV 132 mehr Hornklang hinein zu zaubern, in dem zwei Hörnerpaare herangezogen werden, eines im normalen tief-Es und eines in hoch Es, ist schon mit modernem Instrumentarium heikel, und mit Naturtrompeten wäre es nahezu unausführbar. Höchst merkwürdig auch die exotischen Farben der Menuett-Trios aus KV 130 und 132!

Das Bessere ist aber, wie der zweite Tag belegte, der Feind des Guten – und so wurden diese Sinfonien durch den Entwicklungsschub der Jahre 1773/74, der Werke wie die kleine g-Moll-Sinfonie oder die A-Dur-Sinfonie gleich wieder in den Schatten gestellt.

Im Laufe des zweiten Tages stellt sich immer mehr der (wissenschaftlich nicht so benannte) Mozart-Wiedererkennungseffekt ein. Von Konzert zu Konzert, fast von Stück zu Stück werden die Kompositionen bekannter. Und doch gibt es auch hier Stücke wie die Sinfonie KV 184 zu „entdecken“, die im Vergleich zur g-Moll- und A-Dur-Sinfonie der gleichen Gruppe, zweifellose viel zu selten gespielt wird. Sehr gelungen war jedenfalls die Aufführung der neun Sinfonien (von KV 162 bis 202) aus den Jahren 1773/74 unter dem Dirigitat der 33jährigen Keiko Mitsuhashi, von der man (wenn sie die unbeabsichtigten Temposchwankungen noch abstellen kann) künftig wohl noch viel Gutes hören wird. Eine Klasse für sich sowohl von der Leistung des Orchesters wie der Diriigenten waren dann die beiden letzten Konzerte mit sechs und vier Sinfonien unter der Leitung von Michiyoshi Inoue bzw. Eiji Oue (wobei im letzten Konzert, das fast nahtlos an die Nachmittagsvorstellung anschloss, die Prager-Sinfonie KV 504 die aus Salzburg und aller Welt gewohnte Trilogie Es-Dur, g-Moll und C-Dur komplettierte). Wenn man sich mit dem tänzerischen Elementen im Dirigat von Inoue, die bis zu Pirouetten reichen, anfreunden kann, hätte wohl die Sinfonie KV 338 den interpretatorischen Höhepunkt dargestellt, hätten nicht alle die letzten Reserven mobilisiert und eine formidable Aufführung der Jupiter-Sinfonie zum Abschluss des Marathons zuwege gebracht.

Tosender Applaus mit vielen Japan-untypischen Bravorufen! Respekt allen Aufführenden und allen Zuhörern! Fanden die Konzerte des ersten Tages in einem kleinen Saal der Suntory Hall („Blue Rose“ mit etwa 600 Plätzen und schöner Akustik bei Ballsaalatmosphäre) war man für den Sonntag in die große Suntory Hall mit etwa 1800 Plätzen umgezogen. Bei deren Bau hatte man sich an der Berliner Philharmonie orientiert.

Alles in allem haben etwa 6000 Menschen die Aufführungen der beiden Tage besucht. Vielleicht hundert Unentwegte haben alle sechs Konzerte mit gut 15 Stunden reiner Spieldauer abgesessen (Sitzkomfort und Beinfreiheit waren vorbildlich). Von diesen Mozart Dauerbrennern war ein Großteil Mitglieder der Japanischen Mozartgesellschaft, vielleicht die führende, jedenfalls noch immer die größte unter den etwa 100 Mozartgemeinden in aller Welt, die sich den Zielen der Stiftung Mozarteum, Mozarts, Leben und Werk durch Aufführungen und wissenschaftliche Arbeit zu verbreiten, verschrieben haben.

Die Mitglieder der Japanischen Mozartgesellschaft haben neben einigen japanischen Firmen wie Dai-Ichi Seimei Mutual Insurance und Sony in den prosperierenden 1990er-Jahren die Stiftung Mozarteum mit großer Begeisterung beim Wiederaufbau des Mozart-Wohnhauses und beim Aufbau der Mozart Ton- und Filmsammlung mit großem Enthusiasmus und viel Geld unterstützt. Von dieser Förderung ein kleines bisschen an Anerkennung durch „wissenschaftliches Know-How“ zurückzugeben, war der Stiftung Mozarteum ein großes Anliegen: „Wir teilen mit der Japanischen Mozartgemeinde die Freude, wenn wir mit ihr auf mehr als ein halbes Jahrhundert gemeinsamer Arbeit am musikalischen Erbe Mozarts“ zurückblicken“, ließ der Präsident der Stiftung, Johannes Honsig-Erlenburg im Grußwort zum Programmbuch verlauten. Der Live-Genuss des Berichterstatters von Mozarts Musik, die nicht eine Minute langweilig oder gar quälend war, wurde durch einen Beitrag zum Programmbuch und einen einstündigen Einführungsvortrag am Tag vor dem ersten Konzert, der von Isao Suwa, einem emeritierten Linguistik-Professor an der Hitosubasho Universität portionenweise ins Japanische übersetzt wurde, vergleichsweise „billig“ erkauft. Auch standen auf diese Weise Reisezeit und Konzertdauer in einem sehr realistischen Verhältnis zueinander. Von der japanischen Begeisterung für Mozart wird er noch er lange schwärmen, denn dass sich zum Signieren des Programmbuchtextes lange Schlangen nach jedem Konzert bildeten, war eine ganz ungewohnte Erfahrung – die hiermit im Interesse der schreibenden Kollegen auch den Salzburger Konzertbesuchern wärmstens ans Herz gelegt werden soll.

Unter Jugendlichen ist es heute gang und gäbe sich zu Kino- oder Video-Wochenenden, an denen alle Harry-Potter-Filme, Hobbit I-III oder Star Trek Eins bis Unendlich auf dem Programm stehen, zu treffen. Tokio macht uns vor, dass sich auch Erwachsenen für solche Kult-Marathons gewinnen lassen. Wer nicht warten möchte, bis Derartiges auch in Salzburg realisiert wird, dem sei die NMA Online unter dme.mozarteum.at ans Herz gelegt: Dort können Kenner und Liebhaber alle Mozart-Sinfonien, zum Teil in mehreren Einspielungen aus der Mozart- Ton und Filmsammlung der Stiftung Mozarteum, anhören und gleichzeitig den Notentext der Neuen Mozart-Ausgabe kostenfrei mitlesen. Den Tokioten war dieser Teil des Genusses verwehrt, denn die Suntory Hall ist hermetisch gegen Handystrahlen abgeschirmt, so dass Smartphones und Tablet-Computer schwarz bleiben. Die echten Freaks haben daher gleich die Taschenbuchausgabe der Neuen Mozart-Ausgabe ins Konzert mitgenommen, in der die Sinfonien „nur“ oder „immerhin“ 1.200 von etwa 23.000 Seiten füllen.

Ulrich Leisinger ist Wissenschaftlicher Leiter der Internationalen Stiftung Mozarteum

 

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