Lohengrins Geschenk an die Brabanter: der Tyrann Gottfried
REST DER WELT / BASEL / LOHENGRIN
30/10/30 Das Dreispartentheater Basel setzt einmal mehr einen Akzent in der Musiktheaterszene: mit Richard Wagners „Lohengrin“ in der Inszenierung von Vera Nemirova und mit Axel Kober am Pult
Von Oliver Schneider
In Brabant wohl zur Zeit des Ersten Weltkriegs, wie die Kostüme vorsichtig andeuten (Marie-Luise Strandt), herrscht tiefe Not. Im mächtigen Münster verteilt der Heerrufer (prägnant Andrew Murphy) an die Kriegsversehrten und Bedürftigen Suppe, während Heinrich der Vogler ihnen von der umfunktionierten Kanzel Mut spricht. Die an der Misere Schuldigen, das Ehepaar von Telramund, sitzt auf gepackten Koffern und studiert die Landkarte, wohin es für sie gehen könnte (Bühne: Jens Kilian). Die von Telramund des Brudermords bezichtigte Elsa wird dem König in der Zwangsjacke vorgeführt. Von den Brabantern wagt niemand, für sie einzustehen. Doch ihr Flügel-gleiches Rudern mit den Armen deutet schon darauf hin, dass sie andere Hilfe erwartet. Vom Gralssohn Lohengrin, der in Basel statt vom verhexten Schwan Gottfried hereingezogen, diesen selbst auf den Schultern hereinträgt. Auch Gottfried wurde von Friedrich von Telramund und seiner Gattin Ortrud in die Zwangsjacke gesteckt.
Ganz konventionell geht es dann bei der Konwitschny-Schülerin Nemirova den Rest des ersten Aufzugs weiter. Mit dem Schwerterkampf, der Niederlage Telramunds und dem Jubel der Masse, das in Lohengrin den vermeintlichen Retter gefunden zu haben glaubt. Herausragend an Nemirovas Arbeit ist bis zu diesem Moment, wie genau sie das Libretto in eine konzise Personenführung und eine symbolhafte Bildsprache übersetzt. Und wie genau und bruchlos sie die Personen und ihre Abhängigkeiten den Rest des Abends zeichnet. Alles ist bis ins letzte Detail stimmig.
Ab dem zweiten Aufzug gewinnt Nemirovas Deutung der Charaktere und ihrer Handlungsantriebe an Schärfe. Ortrud (grandios in der Darstellung sowie mit lodernden Farben in ihrer stimmlichen Potenz Michelle de Young) steuert Telramund über seine sexuellen Triebe. Schon allein durch ihre imposante Statur kann sie ihren unbedingten Machtwillen demonstrieren. Ganz das Gegenteil davon – und damit in traditionellen Fahrwassern – ist Elsa, die den von Bosheit und Neid genährten Zweifeln an der Identität Lohengrins Ortruds und ihres „Werkzeugs“ Friedrich nichts entgegensetzen kann. Lohengrin ist nur dem Schein nach ein der Erlöser. Im Brautgemach entpuppt er sich als von seinen Trieben gesteuerter, brutaler Macho, der den Beischlaf mit Elsa erzwingen will.
Auflockerung bietet zuvor immerhin eine Kissenschlacht der Brautjungfern und jungen Männer beim Herrichten des Brautgemachs. Auch im Schlussbild darf man schmunzeln, wenn König Heinrich mit dem Masskrug anstösst und die Brabanter – nun alle als Zeitgenossen gekleidet – ihre Bierdosen öffnen, was den Standesunterschied deutlich macht.
Gut ist die Idee, wenn in der zweiten Szene des zweiten Aufzugs eine Art Lettner im vorderen Bühnenteil heruntergelassen wird und Lohengrin und Elsa erstmals von ihrer Umwelt getrennt sind. Der Zweifel nagt schon hier an Elsa, weshalb sie einigen Brabantern zuvor ihre Namensschilder abgenommen hat und sie hier Lohengrin an die Brust heftet. Ein Name muss doch passen.
Nach der Gralserzählung, für die der junge Schweizer Tenor Rolf Romei ausreichend Standhaftigkeit besitzt, zeigt er endlich sein Namensschild. Und bevor er in seine „Heimat“ zurückkehrt, gibt er den Brabantern und Elsa ihren Bruder Gottfried als neuen Herrscher zurück. Doch dieser entpuppt sich als neue Geissel, indem er mit dem Schwert umherfuchtelnd erneut Angst und Schrecken verbreitet. Der Kreislauf schliesst sich: Nemirova deklariert jede Hoffnung auf Befreiung aus Unterdrückung und Gewaltherrschaft als Utopie.
Der viereinhalbstündige Abend vergeht in Basel wie im Fluge, weil er nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch so gut wie keine Wünsche offen lässt. Selten hört man das Vorspiel zum ersten Aufzug so differenziert wie unter Axel Kobers Leitung. Kober ist ein wunderbarer Sängerbegleiter, unter dessen Leitung das Sinfonieorchester Basel die Solisten nie zudeckt, was eine hohe Textverständlichkeit garantiert. Die Musikerinnen und Musiker spielen konzentriert und gefallen vor allem in den herrlich aufblühenden Bläserstimmen. Als Bühnenmusiker sind verstärkend Kollegen von der Oper Leipzig aufgeboten.
Neben der für die die Produktion „eingekauften“ Michelle de Young und dem Ensemblemitglied Rolf Romei, der mit seinem hellen Timbre entfernt an Klaus Florian Vogt erinnert, muss sich auch seine Hauskollegin Sunyoung Seo als sehr jugendliche, unbedarfte Elsa nicht verstecken. Pavel Kudinov verbreitet als Heinrich mit seinem strömenden Bass satten Wohlklang, nur Olafur Sigurdarson als Telramund neigt ein wenig zu eindimensionalem Forte. Die Chöre des Hauses (Einstudierung: Henryk Polus) bestechen schliesslich durch Fülle und Kraft.
Andreas Beck, Noch-Leiter des Schauspielhauses Wien, der die Leitung des Theaters Basel ab der Saison 2015/16 übernehmen wird, darf sich freuen, ein „Stadt-Theater“ dieser Güte zu übernehmen.