Dem Vergessen entrissen
REST DER WELT / LYON / URAUFFÜHRUNG SAARIAHO
02/03/10 Kaija Saariahos „Émilie“ wurde in Lyon uraufgeführt. Es geht zurück in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Émilie du Châtelet, jener gut situierten Marquise, die ihre Ehe als unbefriedigend empfand und sich darob den Wissenschaften hingab.Von Jörn Florian Fuchs
Für Ohren, die an der dissonanten Gegenwart geschult sind, mag die Musik der Finnin Kaija Saariaho recht harmlos tönen. Die langen und schwermütigen vokalen Bögen, das ewige Flackern im Orchester, all die Farbtupfer und Irrlichter sind so gar nichts für Hörorgane, die durch kämpferische Neukomplexisten wie Brian Ferneyhough oder Gesamtkunstwerker wie Stockhausen gestählt sind.
Orchestrale Ausbrüche finden sich bei Saariaho in der Regel spärlich gesät, ihr geht es vor allem um die Erzeugung von nuancierten Binnenspannungen. Ihre drei Bühnenwerke bisher klingen alle recht ähnlich und auch inhaltlich gibt es Verbindungen. Immer spielen Sehnsüchte und Ängste, aber auch Träume eine Rolle. Dazu mischen sich ein paar Hoffnungsfunken: die Hoffnung auf jenen anderen Zustand, in dem der Traum zur Wirklichkeit wird und alles Ersehnte, Nichterfüllte verschwindet. Man kann das durchaus religiös oder spirituell nennen und gerade da scheiden sich wieder einmal die Geister. Ist so etwas heute erlaubt oder wird es nicht rasch zu reinem Sakralkitsch?
Während Saariaho und ihr Hauslibrettist Amin Maalouf in den letzten Jahren mittelalterliche Troubadoure, starke Frauen im Krieg und die Passion der Existenzphilosophin Simone Weil als Opernsujets wählten, geht es diesmal in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Émilie du Châtelet, jener gut situierten Marquise, die ihre Ehe mit Florent Claude du Châtelet als unbefriedigend empfand und sich darob den Wissenschaften hingab. Vor allem Mathematik, Newtons Physik und die aufklärerischen Gedanken Voltaires hatten es ihr angetan, mit letzterem verband sie denn auch eine Affäre auf mehreren Ebenen.
Auf der Bühne des Opernhauses von Lyon sieht und hört man Émilie achtzig Minuten lang gerne zu, sie sitzt an ihrem Schreibtisch oder wandert durch den sich beständig leicht drehenden Raum, in dessen Mitte ist eine Art Riesenmikroskop mit spinnenartigen Streben. Mehrere Kugeln kreisen um dieses seltsame Gerät, das sehr an die Installationen von Rebecca Horn erinnert. Die Kugeln verwandeln sich zu Planeten, man sieht auf ihnen Namen wie Voltaire oder Saint Lambert, einmal taucht spukhaft ein Embryo-Schatten auf – als Émilie über ihre spät geborene Tochter singt, die nach wenigen Tagen starb.
In neun Stationen tauchen Erinnerungen, Zitate, Weisheiten, Glaubens- und Unglaubensüberzeugungen auf, Todesahnungen treffen auf mathematische Analysen, blumige Poetik begegnet dem heftigen Kampf contre l’oubli – gegen das Vergessen.
Die Musik taucht dabei ab in ungeheure Tiefen und höchste Höhen, es entsteht ein wahres Farben- und Formengewitter. Was die Komplexität betrifft, so geht Saariaho bei dieser Partitur allerdings ein paar Schritte zurück, dafür entsteht ein kongruenter, kohärenter Klangstrom. An dieser Oper bzw. diesem Monodram ist nichts zu lang, nichts überflüssig und nichts aufgesetzt. Und die Regie von François Girard schmiegt sich der Musik wunderbar an, erweitert sie ästhetisch-ätherisch in den Raum hinein, bietet feinste Lichtwechsel, bebildert im besten Sinne. Und dann ist da natürlich noch Karita Mattila, die Saariahos Musik zu hundert Prozent verinnerlicht hat: Klar, luzide, lunar interpretiert Mattila Saariahos Sehnsuchtsbögen, unterstützt vom exzellenten Opernorchester unter Kazushi Ono.
So erwecken in Lyon Musik, Text und Szene die Biographie einer eigensinnigen Dame zum Leben und befreien sie damit von ihrer vielleicht größten Sorge: der, vergessen zu werden.