Hören und glauben am Vierwaldstättersee
REST DER WELT / LUCERNE FESTIVAL
06/09/12 „Glaube“ heißt das Motto beim diesjährigen Lucerne Festival und wie üblich kann man sich zeitweise vor Konzertangeboten kaum retten. Man erkundet also spirituelle (Klang)Welten.
Von Jörn Florian Fuchs
Mit großen, spirituellen Brocken wie Mozarts Requiem, Mahlers Auferstehungssymphonie, Bruckners Neunter oder Verdis Messa da Requiem sind Marksteine gesetzt, auf der rund fünfwöchigen Wegstrecke liegen aber auch exquisite Raritäten, wie zwei tief vergeistigte Symphonien von Galina Ustwolskaja oder das selten zu hörende „Marienleben“ von Paul Hindemith. In Luzern interpretierte es Rachel Harnisch mit schön fließendem, unangestrengtem Sopran. Ganz ausgezeichnet war auch Strawinskys Psalmensymphonie unter Mariss Jansons und dem Concertgebouw Orkest sowie dem City of Birmingham Choir. Das Werk schrieb Strawinsky unmittelbar nach seiner Rückkehr in den Schoß der Russisch-orthodoxen Kirche. Es ist aber kein einfaches Glaubensbekenntnis, vielmehr schwankt der Komponist zwischen Bangen und Hoffen, Zweifel und Überzeugung, eher Erkundung statt Verkündigung.
Auch der Schweizer Klangmagier Heinz Holliger ist sich seiner Sache nicht wirklich sicher, wobei nicht ganz klar wird, was seine Sache denn überhaupt ist. Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart brachten Holligers zehnteiligen Zyklus „nicht Ichts – nicht Nichts“ (auf Texte von Angelus Silesius) zur Uraufführung. Viel ist da die Rede – beziehungsweise wird gesungen – von den „Augen der Seele“, von „Zufall und Wesen“ sowie der Rose, „die blühet, weil sie blühet“. Holliger schrieb zehn miniaturhafte Meditationen, die unterschiedlich temperiert sind, aber doch durch überlappende Grundlinien und ähnliche Strukturelemente verknüpft werden. Ganz am Schluss, der ja vielleicht nur wieder ein Neuanfang ist, schichtet Holliger mehrere Gesangslinien übereinander und vermittelt dadurch einen kleinen Eindruck, wie die Ewigkeit tönen mag – in der alles gleichzeitig abläuft.
Und noch einem Metaphysiker widmeten sich die Neuen Vocalsolisten. Karlheinz Stockhausen hatte sehr konkrete Vorstellungen von Gott und Mensch und Erlösung. Auf seinem Grabstein in Kürten steht ein Text aus seiner Oper „Mittwoch aus Licht“. Es ist eine Lobpreisung der Schöpfung, „Liebe, Hoffung, Mut“ werden beschworen. Der in Stockhausens „Licht“-Heptalogie immer wieder störend agierende Luzifer soll durch spezielle Klänge zur Raison gebracht werden, bis ein „Sphärentraum in ewgen Galaxien“ zu Gotteslob und allumfassender Liebe führt. In Birmingham versuchte sich unlängst Graham Vick an der ersten Inszenierung der ganzen Mittwochs-Oper, während dieser finalen Versöhnungs- und Hoffnungsszene schlichen die Protagonisten mit so etwas wie Christbaumkugeln umher. Dazu rauschte und brauste es elektronisch. Die Uhr war da schon weit fortgeschritten und man saß völlig fertig in einer alten Fabrikhalle.
In der Luzerner Matthäuskirche vormittags um Elf ist die Stimmung eine gänzlich andere. Zwar umkreisen einen auch hier sechs (fantastische) Sänger und auch sie sind illuster angezogen und tragen handgefertigte bunte Kugeln wie eine Monstranz vor sich her. Doch die puren Vokalklänge wirken jetzt plötzlich atemberaubend schön und intensiv. Stockhausen schrieb das Vokalsextett mit dem Titel „Menschen, hört“ bereits 1997. Dass es jetzt als späte, postume Uraufführung in Luzern herauskam, und noch dazu in einer christlichen Kirche, ist ein echter Coup!