Schuld und Erlösung
REST DER WELT / ZÜRICH / OREST
03/03/17 Obwohl „Orest“ alles andere als leicht verdauliche Kost ist, erlebt das 2011 in Amsterdam uraufgeführte vierte Musiktheater-Werk des deutschen Komponisten Manfred Trojahn in Zürich bereits die dritte Neuproduktion seit der Uraufführung, hier in einer Inszenierung von Hans Neuenfels.
Von Oliver Schneider
Aus der blutigen Atridengeschichte interessiert Trojahn Orest, weil er vom Gott Apoll zwar zum Muttermord legitimiert worden ist, nun aber alleine mit den quälenden Schuldgefühlen fertig werden muss.
Klytämnestras Schrei lässt Orest aus dem Schlaf hochfahren. Von Geigen begleitete Frauenstimmen – die Erinnyen – rufen ihm die Morde an seiner Mutter und ihrem Geliebten Ägisth immer wieder in Erinnerung und haben ihn mittlerweile psychisch krank werden lassen. Sein Schlafzimmer ist ein fensterloser, an eine Gummizelle erinnernder Raum in einer Psychiatrischen Klinik (Bühne: Katrin Connan), aus dem es keine Flucht vor dem Gewissen gibt. Auch die Ehebruchszene lässt Hans Neuenfels erbarmungslos in der Erinnerung erneut wach werden.
Vergangenheit und Realität verschwimmen miteinander. Apollo, der bei Trojahn quasi in Personalunion auch Dionysos mit goldenem Phallus ist (Airam Hernandez), will und kann Orest seine Schuldgefühle nicht nehmen, denn die Götter sind nur eine Fiktion, eine Legitimations-Krücke für das eigene Fehlverhalten. Orest sieht auch das trojanische Pferd wieder. Und die schöne Helena, für die die Griechen in den Krieg gezogen sind und die, zwar gealtert, immer noch eine große Dame vorzugeben versucht. Dass sie eigentlich ihren Körper billig und willig dem Paris hingegeben hat, zeigt Andrea Schmidt-Futterer mit einem knallroten Kostüm, in dem sie mit Verlaub ein wenig abgetakelt wirkt. Es ist kaum zu glauben, dass eine solche Frau der Grund für einen „Weltkrieg“ sein konnte. Die Sopranistin Claudia Boyle gestaltet die Partie souverän und die Bühne beherrschend und bewegt sich mühelos in der mit grossen Sprüngen gespickten Partie.
Orests Schwester Elektra ist dagegen eine knallharte, entschlossene Gerechtigkeitsfanatikerin, wobei sie den Begriff Gerechtigkeit nach ihrem Gutdünken auslegt. Eine Extremistin ist sie. Anders als sein Komponistenkollege Richard Strauss, zeichnet Trojahn seine Elektra deshalb auch nur mit harten, lauten Klängen, wobei Ruxandra Donose damit keine Mühe hat. Sie überzeugt in ihrer Darstellung auf ganzer Linie.
Helenas Tochter Hermione, für die Trojahn als einzige Person vor allem lyrische Linien komponiert hat (gut Claire de Sévigné), zeichnet Neuenfels als ein naives Mädchen im rosafarbenen, petticoatartigen Kleidchen und als krassen Gegensatz zu ihrer extrovertierten Mutter. Nach Elektras Willen soll Orest auch sie töten. Doch es kommt anders, denn durch Hermiones unschuldigen Blick wird Orest vorderhand aus seinem Wahnsinn erlöst und kann sich von seinen Schuldgefühlen befreien. Anders als vom Libretto vorgesehen, lässt Neuenfels in seiner konzisen Personenführung Orest aber alleine in die ungewisse Freiheit gehen. Hermione soll nicht zu einer neuen Stütze werden; die Erinnyen muß Orest ganz aus eigener Kraft vertreiben.
Georg Nigl zeigte sich trotz abklingender Bronchitis in guter Form. Gefordert ist er über weite Strecken deklamierend als Singschauspieler. Eindringlicher kann man den nach Erlösung lechzenden Wahnsinnigen wohl nicht interpretieren, als Tichy dies zurzeit in Zürich macht. Raymond Very komplettiert schließlich das Ensemble als Agamemnon-Bruder Menelaos.
Der amerikanische Dirigent Erik Nielsen führt die Philharmonia Zürich präzise durch die üppigen Klangbilder, ohne die Protagonisten zu bedrängen. Gut hörbar ist das die Oboengruppe verstärkende Heckelphon, mit dem Trojahn unmittelbar die Verbindung zu Strauss‘ Elektra herstellt. Der Chor des Hauses wurde von Ernst Raffelsberger einstudiert. 80 Minuten dauert Trojahns „Orest“ nur, und länger hätte man die beklemmende Intensität wohl auch nicht ausgehalten. Das Publikum dankte allen Ausführenden und dem Komponisten mit die Spannung lösendem, befreiendem Applaus. Ob sich auch ein nicht-deutscher Komponist der bedeutungsschweren Schuldfrage annehmen würde?