Wer sagt da noch: Schmachtfetzen?
KULTURVEREINIGUNG / KÖNIGLICHE PHILHARMONIE FLANDERN
06/02/14 Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert ist ein, sagen wir es vorsichtig, belastetes Werk. Mit Vorurteilen wie Effekthascherei oder Schmalz ist man da rasch bei der Hand. Es geht aber auch völlig anders: Etwa, wenn es Igor Lewit und Edo de Waart gemeinsam angehen.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein hoffnungslos „abgespieltes“ Stück? Keine Rede, wenn ein erfindungsreicher Pianist und ein eingefuchster alter Kapellmeister sich auf die Suche nach kammermusikalischen Möglichkeiten machen. Da lässt schon während der ersten Klavierakkorde die Orchesterbegleitung aufhorchen, weil man plötzlich ein paar Bläserfarben mehr vernimmt als für gewöhnlich. Igor Levit, in lauernder Haltung, gleichsam in Augenhöhe mit seinem Instrument, hat (auch) einen fast schwerelosen Tastendruck drauf. Da entsteht, wo sonst doch meist nur Akkorde über die gesamte Breite der Klaviatur verteilt werden, so etwas wie flächige Malerei. Pastellig, wo geboten, aber auch mit präziser Kontur. Levit scheint beständig am Sprung, um augenblicklich, wenn auch nur ein Orchesterinstrument aus der Deckung geht, diesen Partner an sich zu ziehen, in kammermusikalische Zwiegespräche zu verwickeln.
Und Edo de Waart, dieser in jeder Sekunde weit über den Dingen stehende und Überblick bewahrende Orchester-Anführer, entlässt viele blasende Kollegen quasi in die Einzelverantwortung, er schafft für sie optimale Freiräume. Es war an diesem denkwürdigen Mittwochabend (5.2.) im Großen Festspielhaus ganz erstaunlich, wie viel Initiative da auch unmittelbar vom Orchester, der Königlichen Philharmonie Flandern, gekommen ist. Da ist wie spontan die Spiel- und Fabulierlust gewachsen, die dann von Igor Levit unmittelbar in Energie und Farbe umgesetzt worden ist. So muss Orchesterspiel das pure Vergnügen sein.
Brillante Technik heißt bei Igor Levit nicht bloß, in kurzer Zeit viele Tasten zu treffen. Es wird die Bewegung jedes Fingerknöchelchens quasi unmittelbar in den Dienst einer Klangfarbe gestellt. Reliefs werden nachgezeichnet, aus gebrochenen Akkorden lösen sich plötzlich kleine Melodien, die einem so womöglich noch nicht als eigenständig aufgefallen sind. Und noch weniger erwartet man aus diesem melodischen Filigran so viele Anknüpfungspunkte zum Geschehen im Orchester. Eine Dreiviertelstunde, geeignet, Hör-Spannung sondergleichen zu erzeugen. Kein Wunder, dass beim Schlussapplaus einige Zuhörer unvermittelt aufgesprungen sind.
Aber da hatte Igor Levit ja noch etwas als Zugabe im Talon, Wagner durch Liszt gefiltert, und das hat geklungen, als ob diesem Ausnahmepianisten unter jedem vollgriffigen Tristan-Akkord noch extra Finger wüchsen, die Harmonik wundersam umspielend, umgarnend. Mal ganz ehrlich: Wenn das einer so sagenhaft poetisch spielt, verzichtet man liebend gerne aufs Original.
In Strawinskys „Petruschka“ bestätigte sich nochmal Edo de Waart als ungemein sachkundiger Ermöglicher: Wie nachdrücklich durften sich doch die Solostreicher und -bläser der Königlichen Philharmonie Flandern in Szene setzen, wie wohl aufgehoben konnten sie sich fühlen in einem kapellmeisterlich beherrschten, immer wieder agogisch auch freien Umfeld: Der Dirigier-Altmeister erweist sich eben in solchen Freiheiten.
Am Beginn war ein deftiger Knaller von Raritätenrang gestanden: „Bolt“ ist ein Ballett von Dmitri Schostakowitsch aus dem Jahr 1931: sozialistischer Realismus im Musiktheater, der aber Stalins Kunst-Schergen noch immer nicht platt genug war. Als Konzertsuite mit köstlich parodistischem Grundton macht das bizarr instrumentierte Stück allemal großen Effekt, und die Königliche Philharmonie Flandern hat das Zeug dazu, so etwas mit Pfiff und Brillanz zu veredeln.