Musizieren wie die Engel und Spielleute von Sens
CD-KRITIK / CONCERT CELESTE
23/12/15 Ist es anzunehmen, dass jene Musikanten, die in der Silvesternacht die Stimmung hoch gehalten haben, tags darauf in der Kirche ihre Instrumente artig weggelegt und sich einer musikalisch viel bescheideneren Frömmigkeit hingegeben haben? Bestimmt nicht.
Von Reinhard Kriechbaum
Die Kirchen-Obrigkeit wusste wohl, warum sie vielerorts gerade am 1. Jänner einen „Narrentag“ zuließ, an dem die Welt ein wenig auf den Kopf gestellt wurde. Da hatten einen Tag lang „Knabenbischöfe“ das Wort, die Novizen durften mal für einen Tag der Obrigkeit ihre Meinung sagen – ein, wenn man es so sagen will, psychosoziales Ventil im sonst doch eher streng reglementierten Leben künftiger Kleriker.
Da hakt Emmanuel Bonnardot ein mit seinem famosen Ensemble Obsidienne und lässt in der CD mit dem vielversprechenden Titel „Concert Celeste“ mal hypothetisch eine Messe an einem solchen 1. Jänner entstehen: Ausgelassenheit und Übermut bestimmen die Stückfolge. Das melodische Gut stammt zu einem Großteil aus einem recht bekannten, wunderbar illuminierten Manuskript aus der Bibliothek der Kathedrale von Sens. Im frühen 13. Jahrhundert ist es geschrieben und gemalt worden.
Auch das Weihnachtsfest war wohl eine Gelegenheit, da sich die Musiker nicht bescheiden mussten. Dafür stellte Bonnardot gleich eine kleine musikalische Weltreise zusammen. Kann schon so gewesen sein, dass Spielleute, die ja weit herumkamen, gern Gehörtes einbrachten. Wie sonst wäre seinerzeit ein spanisches Villancico in die Uppsala-Handschrift geraten? „Es kommt ein Schiff gefahren“ landet also ebenso wie ein englisches Carol, ein italienisches Laude und dergleichen mehr in der kirchenmusikalischen Festfolge.
Die Überlegung hinter dem buntscheckigen Sammelsurium: Erprobtes ist gewiss nicht verworfen worden, wenn in der Musik auch Neues auftauchte – und das Neue seinerseits hat man nicht aus der Kirche ausgeklammert (durchaus manchmal zum Leidwesen der Obrigkeit). Betörend draufgängerisch lassen Emmanuel Bonnardot und Obsidienne auf Stücke à la Carmina burana, aus der sie ja auch schon eine CD gemacht haben, archaische Mehrstimmigkeit (Organum) oder auch sehr kunstvolle mottetische Improvisationen folgen. Choralmelodien bekommen Neben- und Zusatzstimmen, aus Melodie-Partikeln entstehen polyphone Geflechte. Aus komponierten Stücken wie dem bekannten „Gloria ad modum tubae“ von Guillaume Dufay, in dem die Bassstimme Blechbläser-Quarten imitiert, holt man sich quasi die Erlaubnis zu wie aus dem Moment heraus erfunden wirkenden Neuschöpfungen.
Dreikönig und das Fest des heiligen Stephanus sind weitere Themenkreise auf dieser auf den Weihnachtsfestkreis hin ausgelegten CD. Nicht nur das Alleluja und der Jubilus für die Messe zum Heiligen Stephan, über sieben Minuten lang bis zu vierstimmig improvisiert, nötigen Respekt ab.
Die Vokalisten und Instrumentalisten von Obsidienne und natürlich der musikalische Leiter selbst sind stilkundig genug, um dabei einerseits auf dem Boden des historisch Argumentierbaren zu bleiben und anderseits größte Abwechslung zu bieten. Man hinkt den Glasmalereien mit musizierenden Engeln in der Rosette der Kathedrale von Sens nicht nach: Denkbar größte Hör-Lust aus dem sich zu Ende neigenden Mittelalter.