Erlebnis des Nachhörens
HÖRVERGNÜGEN / THIELEMANN / STRAUSS
07/05/20 Eine CD kaufen gehen? Geht jetzt wieder. Wir haben den Salzburger CD-Händler Andreas Vogl gebeten, unseren Leserinnen und Leser einige seiner Lieblings-CDs vorzustellen.
Heute empfiehlt er: Die Frau ohne Schatten unter Thielemann aus der Wiener Staatsoper
Von Andreas Vogl
Nichts ersetzt das Live-Erlebnis einer Opernaufführung. Dieser Tage müssen alle, die sonst aus purer Leidenschaft Abo- und Stehplätze der internationalen Bühnen bevölkern, darauf verzichten. Schnell haben viele Veranstalter alte Dokumente, die man im Laufe der Zeit in Eigenproduktion konserviert hat, zur Alternative als Stream zur Verfügung gestellt. Aber befriedigend ist das für uns Freaks nicht. Das 24/7 Abrufen von Kultur, was sich auch vor Corona bereits immer häufiger im Angebot niedergeschlagen hat, wirft Fragen der Nachhaltigkeit bzw. Singularität auf.
Andererseits ist mit dem Konservieren von Musik aber, neben dem archivarischen Wert, ein weltumspannender Markt entstanden, von dem etwa ich als CD-Händler immer noch versuche zu leben. Und so ist das Nachhören einer Aufführung, zu der man persönlichen Bezug hatte, ein individuelles Revival-Erlebnis. Von so einem Dokument möchte ich heute berichten: Der Premieren-Mitschnitt von Richard Strauss’ Frau ohne Schatten aus der Wiener Staatsoper vom 25. Mai 2019 ist erst dieser Tage bei Orfeo erschienen.
Während mich die szenische Umsetzung des Ponnelle-Schülers Vincent Huguet ob ihrer vielen dramaturgischen Fehler wenig überzeugt hat, war die musikalische Seite dieses wunderbaren Werkes genau hundert Jahre nach seiner Uraufführung deutlich genialer (ich erlebte eine Folgeaufführung). Allen voran hat man einen Dirigenten verpflichtet, der dieses Werk so gut kennt, wie kaum ein Zweiter. Der Strauss-Experte Christian Thielemann vermag zusammen mit dem Staatsopernorchester (Wiener Philharmoniker) logischen Fluss, dramatischen Aufbau und Klangexplosionen zu formen, die schwer zu übertreffen sind. Die Sänger waren mit Wiener Publikumslieblingen und treuen Thielemann Ergebenen besetzt: Camilla Nylund mit sicheren Kaiserinnen-Höhen und Stephen Goulds siegfried-erprobter Kaiser; Wolfgang Koch mit „mitleiderregendem“ edlen Bariton und Nina Stemme, die an die großen Legenden ihrer Rollen-Vorgängerinnen nahtlos anschließt, als Färberpaar; sowie Evelyn Herlitzius, die als böse Amme über sich hinauswächst.
Der scheidende Direktor Dominique Meyer konnte außerdem für die vielen weiteren Rollen auf sein wunderbares Staatsopernensemble zurückgreifen. Meine musikalischen Schlüsselstellen in dieser vielschichtigen Wunderoper am Wendepunkt der Zeiten, 1919 als letzte große romantische Oper entstanden, etwa der Erdenflug und Schluss des ersten Aktes oder das Finale des zweiten, sind hier so erschütternd schön und tief, dass der Mitschnitt ein wahrhaftes Dokument geworden ist. Der Wiener Staatsoper sei Dank.