Postmoderne wieder gut gemacht
CD-KRITIK / MUSIKALISCHES OPFER
13/06/19 Allemal könnte man fragen: Wie war das an jenem legendären 7. Mai 1747, als Friedrich der Große Lust und Neugier verspürte, den großen Alten, den Vater seines Hofkomponisten Carl Philipp Emanuel Bach, in Sanssouci persönlich kennen zu lernen?
Von Reinhard Kriechbaum
War der König auf einen Zeitensprung in eine ältere Musikwelt eingestellt? War er zwei Monate später, als Bach das königliche Thema in ein ansehnliches Konvolut der raffiniertesten Polyphonie verwandelt hatte, überrascht und angetan davon, dass der angeblich schon so sehr aus der Zeit gekippte Leipziger Meister zumindest in die Triosonate des „Musikalischen Opfers“ nicht wenig Spirit für den Empfindsamen Stil eingebracht hatte?
Das „Musikalische Opfer“ hat jedenfalls auch mit Zeitreisen zu tun. Wenn der Bratschist, Komponist und Stil-Tausendsassa Sebastian Gottschick seine Variante vorlegt, darf man auch schmunzeln: Jene beiden zentralen Episoden, in denen sich Gottschick quasi selbst als Nachschöpfer einbringt, sind Postmoderne pur – und damit vielleicht von unserer Gegenwart ungefähr so weit weg Johann Sebastian Bach und seine Kontrapunkt-Phantasmagorien vom alten Fritz im Potsdam des Rokoko. Das Ensemble, das sich mit Sebastian Gottschick auf Bach-Neuerforschung begibt, heißt sinnigerweise „Vintage“. Der Begriff hat ja auch mit altem, wenn auch hoch geschätztem und deshalb nicht selten teuer bezahlten Krempel zu tun.
Eine janusköpfige Aufnahme: Ein Ensemble, das Bach mit aller Raffinesse stilsicherer Klangrednerei zu Sprechen bringt. Und ein in vielen Stilen versierter, experimentierfreudiger Komponist, der Bach eins draufsetzt. In einem „Canon Puzzle“ lässt Gottschick sechs von Bachs Canons synchron laufen. Man hat das Gefühl, von einem Palastzimmer ins andere zu gehen. Die Türen bleiben offen, das vorher Gehörte klingt leise nach, eins überlagert das andere. Reizvoll allemal.
Aber auch an den Canon 5 – per Tonos – hat Gottschick Hand angelegt. Bachs Idee waren Modulationen jeweils Ganztonschritte nach oben. Mit jeder Erhöhung steige der Ruhm des Königs, erklärte Bach sinngemäß. Hier wird draus ein Crescendo- und Accelerando-Sog mit circensischem Pfiff (und schon auch der dem Zirkusmetier eigenen Plattheit).
In anderen Kleinigkeiten ist Gottschicks Version viel feinfühliger. Etwa wenn er im famos plastisch ausmusizierten Ricercar a 6 unter die Streichinstrumente plötzlich die Traversflöte mischt und so nicht nur die Ohren kitzelt, sondern wirklich dem Struktur-Hören weiter hilft. Ähnliches schafft er im dritten Satz der Triosonate, wo er das Continuo als sanftes Pizzicato dreier Streichinstrumente anlegt ist und so die mutig-deftige Phrasierung von Traversflöte, Violine und Violoncello umso deutlicher heraus kommt.
Als „Appendix“ folgt ein Canon-Block mit „Original versions“ von Bach, will heißen: eine Gruppe zweistimmiger Canons allein auf der Basis von Bachs Noten, alert artikuliert, aufs Charisma der jeweiligen Miniatur hin zentriert. Da zeigt das Ensemble Vintage (geleitet von der Geigerin Ariadne Daskalakis) seine stilistische Souveränität. In diesem Block kommt der Canon 5 per Tonos übrigens nochmal vor. Cembalo und Traversflöte kommen stufenweise ins Spiel – und ehrlich: Das hat viel mehr Überzeugungskraft als die postmoderne Überdrehtheit in der Paraphrase desselben Stücks.