Echtes Musiktheater
CD-KRITIK / CARLO FARINA
19/03/17 Man muss sich das erst ins Gedächtnis rufen: In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Musiker wie Carlo Farina das spieltechnische Spektrum der Violine nachhaltig erweiterten, hinkte der Notendruck noch deutlich nach. Da tauchte etwa die Idee auf, mit Doppelgriffen Effekt zu machen.
Von Reinhard Kriechbaum
Dafür gab es noch keine Lettern. Man löste die Sache, indem man Ziffern unter die obere der Noten schrieb und so das Intervall kenntlich machte (das hat also nichts mit Generalbass-Bezifferung zu tun). In den Dresdner Drucken der Geigenmusik von Carlo Farina – wird sind in der Ära von Heinrich Schütz, mitten im Dreißigjährigen Krieg – kann man das sehen.
Damals hielt man das Instrument auch so, wie es jetzt Leila Schayegh praktiziert: labil ans Brustbein gelehnt, nicht unters Kinn geklemmt. Und der Daumen der Bogenhand lag am Frosch, gerade dort, wo das Rosshaar anfängt. Nicht nur die Strich-Intensität ist so eine andere: „Das Gewicht des rechten Arms hängt tief und schwer in den Saiten“, erklärt die an der Schola Cantorum unterrichtende Musikerin eine der Konsequenzen, die sich klarerweise auf den Klang auswirken.
Rhetorik ist alles in dieser Musik. Leila Schayegh hat die Floskeln und Techniken verinnerlicht, um ohne dogmatische Einengungen zu spannenden Erzählungen anzusetzen. Sie lässt die bis zu zehn Minuten langen, vielgliedrigen Stücke gelegentlich wie verkappte Intavolierungen eines Vokalsatzes beginnen, mit Geige und Orgel. Doch dann springt die Streicherstimme quasi aus dem Rahmen, setzt an zu kleingliedrigen Diminutionen, oft auch zu großen Gesten, wie sie den sechs in zwei Stimmen notierten Sonate e Canzoni aus den Jahren 1626 und 1628 ebenfalls eignen. Schneidiges Staccato oder breitere Striche, gute Abmischungen auch durch akkurate Abstimmung der oft gewechselten Continuoinstrumente: Das sichert packende Erzählkunst.
Der Italiener Carlo Farina (1604-1639) ist vermutlich nicht zufällig bei Schütz in Dresden gelandet. In Oberitalien (an den Höfen von Parma, Lucca und Modena) hat er die Monteverdi'sche Monodie kennen gelernt und den Ausdruck quasi seinem Instrument anverwandelt. In den drei Konzertmeister-Jahren in Dresden hat er wohl ebenfalls dem neuen Singen gelauscht und dieses imitierend der Geige neue Gefilde erschlossen.
Leila Schayegh und ihre Kollegen haben nach weiterer Literatur aus der Zeit gesucht. Da sind manche Pretiosen beisammen: Die Geigerin spielt etwa eine Fantasia, die ein gewisser Steffan Nau für eine Heidelberger Prinzessin geschrieben hat, oder eine Fantasie von einem Herrn namens Frantz. Beide standen Carlo Farina in nichts nach. Jörg Halubek kann sich an Toccaten von Michelangelo Rossi abarbeiten und zieht aus dem mitteltönigen Chroma erheblichen Ohrenkitzel. Die Gambe (Jonathan Pesek) kommt mit einem emotionalen, anonym überlieferten Solostück „Viel trwaren in meinen hertzen“ zu Wort und der Lautenist Daniele Cominiti mit einem Capricio Chromatico von Pietro Maolo Melli. In all diesen Stücken ist die Suche nach „sprechendem“ Ausdruck greifbar, und sie sind auf dieser Aufnahme so angeordnet, dass jedes von ihnen fast ohne Unterbrechung in eine der Kompositionen Farinas mündet. Echtes „Musiktheater“ ist das Ergebnis.