Für die verwöhnten Kirchgänger in Venedig
CD-KRITIK / ROSENMÜLLER / MARIENVESPER
07/09/16 Ein peinlicher Vorfall im Haus der Thomaner in Leipzig: Johann Rosenmüller (1617-1684) war 1655 vermutlich gut beraten, sich eilends davon zu machen, nachdem er als designierter Thomaskantor der Unzucht mit Schülern beschuldigt worden war.
Von Reinhard Kriechbaum
Gewiss war dieser „Sexskandal“ auch ein Karriereknick, finden wir Rosenmüller danach erstmal in Venedig als Posaunist im Markusdom. Schließlich wurde er aber doch noch Maestro di Coro am Ospedale della Pieta. Immerhin bemerkenswert: Rosenmüller war in protestantischen Kreisen Deutschlands genau so gefragt als Kirchenmusiker und Komponist, wie in katholischen Gefilden. Da schrieb er eben lateinischsprachige Musiken, Vespersätze und dergleichen.
Und was für eine Musik! Die Einspielung einer Marienvesper mit dem Knabenchor Hannover, den Blechbläsern des Johann Rosenmüller Ensemble und dem Barockorchester L'Arco unter der Leitung von Jörg Breiding vermittelt gut, wie ein solches Stundengebet im musikfreundlichen barocken Venedig schon gelegentlich umschlagen konnte zu einem ausufernden Kirchenkonzert mit fast zwei Stunden Dauer. Da findet sich so gut wie jeder Effekt und kompositorische Kniff, wie es die Zeitgenossen eben zu schätzen wussten.
Die Marienvesper ist zusammengestellt aus Einzelwerken Rosenmüllers: die obligaten fünf Psalmen der Sonntagsvesper, Hymnus, Magnificat, auch zwei Instrumentalsonaten (was eine weitere Schaffensfacette Rosenmüllers beleuchtet). Alles in allem ein höchst eindrucksvolles Vorzeigen kompositorischer Vielfalt. Immer wusste Johann Rosenmüller Textinhalte adäquat und für die Hörer damals gewiss überraschend zu kolorieren. Man genieße nur im „Nisi Dominus“ die Spannung zwischen dem emsigen Streben der Menschen mit ihrer ungestümen Käferkrabbelei und dem Kontrast auf die Worte „in vanum“ oder „frustra“ (umsonst, vergeblich). Da steht plötzlich die Musik. Aus diesem Psalm sind übrigens auch die verheißungsvollen Versprechungen, dass es der Herr den Seinen im Schlafe gebe und es deshalb nicht so sinnvoll sei, allzu früh aufzustehen. In der musikalischen Ausmalung Rosenmüllers hört man das doppelt gern.
Mit sicherem Griff weiß Jörg Breiding all das so zu gewichten, dass plastische Effekte herauskommen, man aber genau so geschickt das Überzeichnen vermeidet. Die Tempi sind eher moderat, umso genauer durchgearbeitet die Artikulation. Das Zerstreuen der Stolzen (dispersit superbos) im Magnificat geschieht zielgerichtet und nicht in spontanem Zorn. Es ist ja eine durch und durch beschreibende, illustrierende Komposition – immer ein gutes Stück entfernt von der Urgewalt mancher Passagen in Monteverdis Marienvesper. Solches war Rosenmüllers Sache nicht und das zeichnet Jörg Breiding mit einer handverlesen stilkundigen Solisten- und Instrumentalistenschar nach, aussagekräftig, aber nicht mit theatralem Gestus.