Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten
H.C.ARTMANN LITERATURSTIPENDIUM
16/03/16 „Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie etwas in ihm vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, zu brennen beginnt.“
Ein Zitat aus der Kurzgeschichte „Der Spiegel“, aus dem Buch „Weißer Rabe, schwarzes Lamm“ von Jovan Nikolić, erschienen im Drava Verlag (Klagenfurt). Jovan Nikolic der neunte Träger des H.C. Artmann-Stipendiums. Für 2016 suchte man speziell nach einem Roma- oder Sinti-Autor.
Jovan Nikolic ist Rom und arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Songtexter. Er schreibt Gedichte, Prosa, Liedtexte und Theaterstücke auf Romani oder in serbokroatischer und deutscher Sprache. Nikolic wurde 1955 in Belgrad geboren und lebt seit 1999 in Deutschland, derzeit in Köln. Seit 2002 ist er Vizepräsident des International Romani Writers Association IRWA (Helsinki).
Jovan Nikolic wird im Mai und Juni 2016 acht Wochen in Salzburg verbringen und hier auch literarisch tätig sein. Für den gesamten Zeitraum steht dem Stipendiaten eine komplett ausgestattete Wohnung in Altstadtnähe zur Verfügung.
Das Literaturstipendium in Erinnerung an den Poeten und Sprachkünstler H.C. Artmann wird gemeinsam von der Stadt Salzburg und dem Literaturhaus Salzburg im Rahmen des Scientist in Residence-Programms SIR ausgelobt. Das Scientist in Residence-Programm gibt es seit zehn Jahren.
Wie geht die eingangs zitierte Geschichte weiter? Das Wort „Zigeuner“ nagt in dem Jungen. „Er ahnt, dass dieses Wort, voll einer unbekannten Gefahr, einen verhängnisvollen Einfluss nehmen wird auf sein künftiges Leben; dass es, den Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten, nach ihm schnappen und sein Herz mit den scharfen Zähnen des Spotts und der Verachtung heimsuchen wird. Seither bleibt er immer ein wenig länger vor dem Spiegel stehen; er wartet, dass dort, im Abbild seiner Gestalt, die Bedeutung dieses Worts aufscheint und sich ihm entdeckt. Zugleich verspürt er die große Angst, er werde dort etwas Verhängnisvolles und Schmerzliches sehen, das die Seele für alle Zeit davontragen könne, so dass er nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher jener dort steht, der ihn mit den eigenen Augen ansieht und den Fehler sucht.“ (InfoZ/dpk)