Die Börsenpoesie raubt der Literatur die Sprache
RAURISER LITERATURTAGE 3
28/03/14 Die Frage nach der Aufarbeitung der Finanzkrise 2008 stand im Mittelpunkt des „Gesprächs über Literatur“ bei den Rauriser Literaturtagen. Der erstaunliche Befund: Die Diskursstrategie des Neoliberalismus hat es geschafft, die Krise wegzureden, und die Poesie der Börsenberichte bringt die Literatur in eine Konkurrenzsituation.
Josef Keimelmayr
Trotz vorgerückter Stunde, 23 Uhr, und nach einem dichten Tagesprogramm, füllte sich der Saal des Rauriser Hofes. Manfred Mittermayer leitete das gemeinsame Nachdenken mit der Politik- und Gesellschaftswissenschafterin Sonja Puntscher-Riekmann, der Literaturkritikerin Evelyne Polt-Heinzl und der Schriftstellerin Kathrin Röggla. Das Leitthema „Kapital.Gesellschaft“ stellte die Frage nach dem literarischen Umgang mit der größten politischen und sozialen Zerstörungsereignis der letzten fünfzig Jahre, der Finanzkrise 2008 in den Mittelpunkt. Die Analysen waren erstaunlich. Die Ursachen der Krise waren schnell aufgearbeitet, wobei es gut tat, nicht nur ins hilflose Wutgeheul über die Banken einstimmen zu hören. Es wurde die Vielschichtigkeit der mentalen Voraussetzungen herausgearbeitet. Im neoliberalen Jargon der Ich-AG beispielsweise wird die gesellschaftliche Hilflosigkeit in Chance auf kapitalistische Selbstvermarktung umgedeutet. Staaten „lösen“ die Probleme des Pensionssystems durch hochspekulative Pensionsfonds-Vorgaben.
Blasen entstehen nicht durch die Aktionen Einzelner, sondern durch herdenhaftes Gierverhalten, denen der „kleine Mann“ in regelmäßigen wiederkehrenden Zeiten unterliegt. Das Gegensteuern kommt regelmäßig zu spät. Evelyne Polt-Heinzl hat die Phänomene und ihren literarischen Nachhall untersucht und ist auf einen interessanten Befund gestoßen. Die vergleichbare Krise des Jahres 1873 nach der Ringstraßen- und Weltausstellungs-Blase, die in Österreich ungleich größere Verheerungen ausgelöst hat, ist – mit Ausnahmen wie Marie Ebner-Eschenbach und Ferdinand Saar – literarisch kaum verarbeitet worden. Vor allem auch nicht von der Wiener Moderne, den Söhnen der Väter, die die Opfer dieser Krise waren. Oder war die Flucht in die Seele die Ausflucht vor dem Sozialen?
Kathrin Röggla stellte anhand praktischer Erfahrungen dar, wie schwierig es wäre, aus den banalen Machern des Systems brauchbare literarische Figuren zu machen oder gesellschaftlichen Protest auf die Bühne zu bringen. Die vorgeschobene Objektivität der Marktverhältnisse lasse keine fassbaren subjektiven Bösewichte mehr zu, dem Bösen sei das Pathos verloren gegangen. Nur Film und Trivialliteratur hätten boulevardesk fassbare Repräsentanten des Systems beinahe augenzwinkernd heroisiert, eine Art Neuauflage der halbsympathischen Hochstaplerfigur, deren Verschwinden in der Literatur vor 2000 Evelyne Polt-Heinzl festgestellt hat.
Die Literatur ist also in Konkurrenz zur Poesie des Neoliberalismus geraten. Wer die täglichen Börsenberichte in den Massenmedien hört, hört ja geradezu seelenvoll bilderreich geschilderte Reaktionen der Börsen auf jedes Ereignis in der weiten Welt. Die differenziert denkende Literatur gerät geradezu ins Hintertreffen gegenüber der Eingängigkeit solcher Bilder. Sonja Puntscher-Rieckmann mahnte, wachsam zu sein: Die eingängige simple Rhetorik des Neoliberalismus sei es gelungen ist, die ungeheuren Zerstörungen von 2008 wegzureden und im Sinne Schumpeterscher Ideologie der „ produktiven Zerstörung“ nur mehr über den Neubeginn zu bejubeln. Hoffentlich wird sie nicht eines Tages auf dieselbe Weise auch die Demokratie wegreden.